Da ist sogar der Wirtschaftsminister ratlos: Heute kostet ein Kilo Zucker 150 000 Einheiten der Landeswährung, verkündet 1992 der peruanische Politiker im Fernsehen, morgen wird es doppelt so teuer sein. „Gott steh‘ uns bei“, sagt der dafür zuständige Mann der Regierung. Etwas tun gegen die galoppierende Inflation kann er offensichtlich nicht. In Scharen verlassen die Menschen das Land. Auch Elena (Jimena Lindo) packt in der Hauptstadt Lima mit ihren beiden Töchtern Lucia (Abril Gjurinovic) und Aurora (Luana Vega) die Koffer. In drei Wochen reisen sie in die USA, wo Elena einen neuen Job antreten will, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Allerdings muss auch der Vater (Gonzalo Molina), der die Familie vor Jahren verlassen hat, der Ausreise seiner „Reinas“ (auf Deutsch: Königinnen) zustimmen. Und das könnte schwieriger werden als gedacht in Klaudia Reynickes vielschichtiger Tragikomödie über das Abschiednehmen.
Ratlose Gesichter, eisige Blicke und einsilbige Antworten: So empfangen die noch kindliche Lucia und die ältere, bereits pubertierende Aurora den Mann, der sich nie um sie gekümmert hat. Und der nun plötzlich aus seinem Schrottauto steigt, um für Aurora ein Geburtstagsgeschenk abzugeben. Nicht nur als Vater ist Carlos ein Versager, auch beruflich muss er sehen, wie er geradeso über die Runden kommt. Aber der immer unpünktliche und komplett unzuverlässige Luftikus ist auch ein grandioser Erzähler von tolldreisten Geschichten. Und ein Charmeur erster Klasse. Daher dauert es nicht lange, bis er seine Sprösslinge um den Finger gewickelt hat und sie vor Spaß kreischen, als sie mit ihm in einem geliehenen Auto über Wüstendünen schlingern – eine Achterbahnfahrt nicht nur im physischen Sinne. Mit Carlos‘ Auftauchen geraten auch die Emotionen und die seit langem besprochenen Ausreisepläne aus der Spur. Wer will eigentlich wirklich gehen? Und wer will dableiben – und mit wem?
Mit ihrem dritten Spielfilm kehrt die schweizerisch-peruanische Regisseurin Klaudia Reynicke („Love me tender“, 2019) zurück in ihre alte Heimat. Als sie zehn war, hatte sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater das Land verlassen. „Reinas“ ist also biografisch angehaucht, wenn auch zugleich fiktiv, etwa was die einfühlsam gezeichnete Beziehung der beiden Schwestern betrifft (Reynicke selbst ist Einzelkind). Die Begegnung mit der eigenen Kindheit ist trotzdem in jeder Einstellung spürbar, in den kräftigen Farben, der drückenden Hitze und der Weite des Strandes, an dem Aurora mit Freundinnen und ihrer ersten Liebe abhängt. Wie sich das alles anfühlt, wird überwiegend aus ihrer und Lucias Perspektive erzählt: aus einem Blickwinkel, der die politischen und sozialen Verwerfungen nur insofern streift, als sie Einfluss auf das Leben der Kinder haben, etwa bei Stromausfällen oder der nächtlichen Ausgangssperre. Trotzdem ist „Reinas“ kein reiner Kinderfilm, selbst wenn er in der „Generation“-Sektion der Berlinale dieses Jahr den großen Preis der Internationalen Jury gewann. Er verhandelt zugleich das Drama von Bindung und Zugehörigkeit einer Scheidungsfamilie, in der das Erleben der Eltern eine gleichberechtigte Rolle spielt.
Mutter Elena und Vater Carlos erscheinen auf den ersten Blick als Paar der Extreme. Sie ist die Rationale und Verantwortungsbewusste, die die schwierigen Lebensbedingungen im Lima der frühen 1990er Jahre klar im Blick hat und die entsprechenden Konsequenzen zieht. Der Vater hingegen denkt ausschließlich an seine eigenen Interessen. Er lässt sich durch den Tag treiben, gerät ständig in Schwierigkeiten und windet sich mit abenteuerlichen Lügengeschichten wieder heraus. Aber dass ihm die Kinder, die ihn sonst nie kümmerten, nun gänzlich abhanden zu kommen drohen, gibt Carlos dann doch zu denken. Und auch in Elena kommen, als es ernst wird mit dem Abschied, Zweifel und Gefühle auf, die man bei ihr nicht vermutet hätte. Zusammen mit den Wirrungen im Leben der Kinder ergibt das ein komplexes Netz von Emotionen, in dem jeder sich auf seine Weise verheddert – und zugleich an den Fäden von allen anderen zieht. Die Widersprüche und Nöte kurz vor dem Auswandern derart fein aufzudröseln, gehört zu den größten Stärken von Regie und Drehbuch (Klaudia Reynicke zusammen mit Diego Vega).
Indem sie ihrer eigenen Geschichte nachspürt, liefert die Regisseurin einen unaufdringlichen Beitrag zur aktuellen politischen Debatte um die Ursachen von Flucht und Migration. Vielleicht haben ihn die Schweizer auch aus diesem Grunde als ihren Kandidaten in das kommende Oscar-Rennen um den besten ausländischen Film geschickt. Wer „Reinas“ gesehen hat, wird nicht mehr leichtfertig von „illegaler Einwanderung“ oder „Wirtschaftsflüchtlingen“ sprechen. Und das keineswegs, weil der Film solche Begriffe explizit thematisieren würde. Sondern weil er authentisch und basierend auf eigenem Erleben davon erzählt, wie es ist, seine Heimat zu verlassen. Egal, ob als Kind oder als Erwachsener.
„Reinas“ handelt vom Peru der frühen 1990er Jahre und von einer Mutter, die mit ihren Töchtern das Land wegen des wirtschaftlichen und politischen Chaos verlassen will. Indem sie die unterschiedlichen Blickwinkel von Kindern und Erwachsenen feinfühlig miteinander verzahnt, zeichnet Regisseurin Klaudia Reynicke ein vielschichtiges Bild von den Ängsten und Hoffnungen, die der bevorstehende Aufbruch in ein anderes Land auslöst.