Jessica (Megan Northam) und Leila (Natacha Krief) arbeiten in einem Pariser Seniorenheim, aber sie wollen unbedingt weg von dort. Und zwar ganz weit, am liebsten ins Paradies. Das liegt für die beiden 19jährigen im Jahr 2014 in Syrien, wo die islamistische Terrorgruppe „IS“ kurz davor steht, ein sogenanntes „Kalifat“ auszurufen. Dort werden Bräute für die IS-Kämpfer gesucht, gerne auch aus Westeuropa. Leila hat schon einen Ehemann per Foto gewählt, den sie gerne mit Jessica teilen möchte. Schließlich ist die Vielehe im Islam kein Tabu. Nach der Ankunft in Rakka – damals die inoffizielle Hauptstadt des IS – verfrachtet man die beiden zunächst in ein Haus für heiratswillige Mädchen und Frauen, das von der dämonisch-strengen „Madame“ (Lubna Azabal) regiert wird. Wie die deutsche Regisseurin Mareike Engelhardt in ihrem ebenso spannenden wie schockierenden Debüt aufdeckt, dienen die „Madafas“ genannten Frauenhäuser zu nichts anderem als der Heranzüchtung von willigen Gebärmaschinen und Sexobjekten – inklusive Gehirnwäsche.
Ein Foto von ihrer Mutter – das ist eines der wenigen Dinge, die Jessica heimlich behalten hatte, nachdem sie Handy, Schmuck und Kleider beim Eintritt ins Reich von „Madame“ abgeben musste. Die Herrscherin aber entdeckt das Bild in einem Anatomiebuch, das Jessica, die nun auf den arabischen Namen „Rabia“ hört, als angehende Krankenschwester ebenfalls ins Haus hineingeschmuggelt hatte. Sie solle das Foto verbrennen, fordert Madame. Rabia weigert sich. Das Bild ist die einzige Erinnerung an die Mutter, die die Familie verließ, als Rabia vier war. Dann sei es wohl besser, gleich den Rückflug nach Frankreich zu buchen, befindet Madame. Rabia sei noch nicht reif für die Ehe mit einem Kämpfer. Die Beschuldigte lodert vor Zorn, will zur Tür, macht aber auf dem Absatz kehrt und tut, wie ihr befohlen wird. Madame kann das befriedigte Grinsen, das um ihre Mundwinkel spielt, kaum unterdrücken. Denn genau darauf basiert ihre Herrschaft: Das Vorleben der westlichen Terror-Touristinnen auszulöschen, um deren Identität zu brechen und neu wieder zusammenzusetzen. Es zählt zu den größten Stärken des Films, diesen abstrakten Vorsatz in aller Konkretion, in all seinen Details und seiner gesamten Grausamkeit aufzudröseln. So funktioniert nicht nur der Islamismus. So funktionieren alle Diktaturen. Das macht den Film universell.
Natürlich ist das keine leichte Kost. Die Verdienste dieses Dramas nach realen Vorbildern, über die die Regisseurin von 2016 an recherchierte, liegen nicht darin, die Wirklichkeit so zurechtzubiegen, dass sie unterhaltungstauglich wird. Sie liegen – neben den überzeugenden filmischen Mitteln – im Beitrag zu einer wichtigen Debatte, die sämtliche autoritären Regime betrifft, auch den gerade um sich greifenden Rechtspopulismus. Denn das Drama macht deutlich, wie nebensächlich die konkreten religiösen und politischen Motive sind, die junge Menschen in die Arme von Rattenfängern treiben. Stattdessen legen Mareike Engelhardt und ihr Co-Autor Samuel Doux psychologische Motive frei: Haltlosigkeit, Perspektivlosigkeit, das Fehlen von Müttern und Vätern, die stolz auf ihre Kinder sind. Zudem hat noch kein Film zuvor die Funktionsweise der „Madafas“ unter die Lupe genommen, diese Mischungen aus Gefängnis, Bordell und Jugendherbergen, die keineswegs nur durch blanken Terror regiert werden, sondern mit einem perfiden Mix aus Zuckerbrot und Peitsche (auch im Wortsinn). Sollte sich auch nur eine westliche IS-Sympathisantin dank dieses aufklärerischen Motivs davon abhalten lassen, einen islamistischen Kämpfer heiraten zu wollen, so hätte der Film seine Funktion erfüllt.
Das soll jedoch keineswegs heißen, „Rabia – Der verlorene Traum“, sei ein reiner Themen- und Thesenfilm. Ohne lupenrein unter die Kategorie „Thriller“ oder „Horror“ zu fallen, entfaltet er den langsamen Abstieg aus dem erträumten Himmel ins immer tiefere Dunkel der Hölle in bezwingenden, fesselnden Bildern (Kamera: Agnès Godard). Schon wenn Madame den Massenschlafsaal der Frauen durchschreitet – ganz hinten an der Tür als kleine schwarze Gestalt, die sich betont langsam nähert – kriecht Angst auf die Leinwand. Die Lichtdramaturgie, die auch sonst ein künstliches Aufhellen dunkler Flecken konsequent verweigert, lässt Böses ahnen. Das wird dann, sehr zum Vorteil des Films, nicht explizit ausgewalzt, aber in seinen Folgen drastisch genug gezeigt. Sie habe nichts von dem erfunden, schreibt Mareike Engelhardt in ihrem Regiekommentar. „Viele Details waren so unglaublich und brutal, dass ich oftmals die Realität ‚abschwächen‘ musste, um sie für den Zuschauer glaubwürdig zu machen und ihm zu ermöglichen, den Film überhaupt anschauen zu können.“
Obwohl die Titelfigur Rabia nach und nach vom Opfer zur Täterin wird, ist die Figurenzeichnung so differenziert und subtil, dass sie die Handlung durch sämtliche Wendungen trägt und trotz aller dunklen Flecken zur Identifikation einlädt. Die französische Hauptdarstellerin Megan Northam verleiht ihrem Charakter eine überzeugende Mischung aus Verletzlichkeit und innerer Härte, die sich zur Brutalität steigert und die Frage streift, wie aus „normalen“ Menschen Folterknechte und KZ-Aufseher werden. Dass die junge Frau ihren arabischen Namen fälschlicherweise mit „Wut“ übersetzt, lässt tief blicken. Und zwar nicht nur in Rabias Seele, sondern in das gefährliche Potenzial all derer, die sich heimlich oder ganz offen als „Wutbürger“ verstehen.
„Rabia – Der verlorene Traum“ erzählt von zwei naiven Teenagern aus Paris, die sich in Syrien wildfremden arabischen Männern als Terror-Bräute andienen. Regisseurin Mareike Engelhardt durchleuchtet mit Recherche-gesättigter Akribie die psychologischen Defizite dieser jungen Frauen – und die perfiden Mechanismen der Gehirnwäsche, die genau diese Schwächen ausnutzen.