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Pol Pot Dancing

Geschrieben von Peter Gutting am 25. November 2024

Es ist eine herzzerreißende Geschichte: Chea Samy, Startänzerin des Klassischen Kambodschanischen Balletts am Königspalast, nimmt den jüngeren Bruder ihres Mannes bei sich auf und kümmert sich um ihn wie um einen eigenen Sohn. Sie schickt ihn auf die besten Schulen und verschafft ihm Geigenunterricht, was der Junge namens Saloth Sar durchaus zu schätzen weiß. Als Erwachsener aber nennt er sich Pol Pot und geht als einer der schlimmsten Massenmörder in die Geschichte ein. Kulturschaffende und Tänzer zählen zu den größten Feindbildern des kommunistischen Schreckensherrschers. 90 Prozent von ihnen verlieren während des vier Jahre dauernden Pol-Pot-Regimes (1975 bis 1979) ihr Leben. Auch Ziehmutter Chea Samy wäre als Zwangsarbeiterin beinahe zu Tode gekommen – und mit ihr die nur mündlich überlieferte Tanztradition. Wie sie gerettet wurde, schildert Dokumentarfilmer Enrique Sánchez Lansch („Rhythm is it!“, 2004) in einem ebenso sinnlichen wie informativen Amalgam aus Tanz- und Historienfilm.

Ein dichtes Dach aus Bananenpflanzen, darunter schwarz gekleidete Frauen mit roten Halstüchern. Mit grimmigem Blick schwingen sie Stöcke, im Gleichklang der Bewegungen, ebenso elegant wie martialisch. Schnitt: Soldaten der „Roten Kmehr“ schlagen mit Gewehren aufeinander ein, als wären sie Schwerter. In der Parallelmontage fließt die historische Realität, als Pol Pot mit seinen Gefolgsleuten im Dschungel untertauchte, mit fiktionaler Verarbeitung zusammen. Und plötzlich erscheint diese Art von Tanztheater hochmodern, fast westlich. Die Szenen in der freien Natur haben nur noch wenig mit der jahrhundertalten Tempeltradition zu tun, die den Film zuvor dominierte.

Wie in Zeitlupe bewegen sich die Tänzerinnen da in ihren goldbestickten Kostümen und dem turmartigen Kopfschmuck. Sanft und kunstvoll lassen sie die Arme gleiten, die Finger zurückgebogen oder abgespreizt in zeichenhafter Bildsprache. In solchen Sequenzen verlässt sich der Film ganz auf die Schönheit einer träumerischen Ausdruckskunst, die von Beginn an Geschichten erzählte, nämlich religiöse und nationale Ursprungssagen. Insofern ist es ganz konsequent, wenn Choreografin Sophiline Cheam Shapiro, eine Schülerin von Pol-Pot-Ziehmutter Chea Samy, die Möglichkeiten dieser Tanzform um moderne Elemente und Inhalte erweitert. Sie lässt den 1998 gestorbenen Diktator seine eigene Geschichte tanzen– inklusive der seines leidenden Volkes.

Die künstlerische Verarbeitung (und vielleicht sogar Therapie) schrecklicher Traumata bildet die eine Achse des Films, in der ästhetische Schönheit in ganz eigener Handschrift mit sozialem Realismus verschmilzt. Die anderen drehen sich um die Schicksale von vier Menschen, die sich ineinander flechten und gemeinsam ein erschütterndes Licht auf die Historie Kambodschas im vergangenen Jahrhundert werfen. Chea Samy (1919 bis 1994) ist quasi die zentrale Protagonistin. Sie erzählt in Archiv-Interviews, wie sie als sechsjährige Bauerntochter zum Tanzensemble des Königspalasts kam und zur Starsolistin aufstieg. Wie sie nach dem Tode ihres Beschützers und größten Fans, König Sisowath Monivong, den Palastbeamten Saloth Suong heiratete, den älteren Bruder des späteren Pol Pot. Und wie sie nach dem Ende des Terrors nach Phnom Penh zurückkehrte und an der neu gegründeten Kunsthochschule die Tradition des klassischen Tanzes rettete, indem sie die mündliche Überlieferung an zahlreiche Schülerinnen weitergab.

Unter ihnen war Sophiline Cheam Shapiro (geboren 1967), die als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern von den Roten Khmer aufs Land getrieben wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Hunger und Krankheiten starben. Einer ihrer Schüler wiederum ist Prumsodun Ok, der Kambodschas erste Gay Dance Company gegründet hat und im Film den Pol Pot tanzt. Den Diktator selbst kann man schließlich in einem der wenigen Interviews erleben, die er ausländischen Journalisten gegeben hat. Dort erzählt er von seiner bäuerlichen Herkunft, erwähnt aber mit keinem Wort sein privilegiertes Aufwachsen am Königspalast und die Förderung durch Startänzerin Chea Samy.

Warum nur hat Pol Pot, der bei der Machtübernahme sämtliche Stadtbewohner aufs Land zur Zwangsarbeit deportieren ließ und in den „einfachen Menschen“ der Landbevölkerung die einzigen würdigen Vertreter eines kruden Steinzeitkommunismus sah, seine eigene Herkunft und Erziehung derart gehasst? Die assoziativ ineinander geschnittenen Erzählstränge des Films kreisen um diese Frage, ohne selbst eine Antwort vorgeben zu wollen. Eines aber machen sie in der üppigen Schönheit der Bilder genauso deutlich wie in erhellenden Interviews: Die Kunst lässt sich nicht so einfach töten wie über zwei Millionen Menschen, ein Viertel der damaligen Bevölkerung. Poesie, Theater, Musik und Tanz überleben in den Köpfen und Herzen. Selbst bei grausamster Verfolgung verschaffen sie sich in kleinsten Nischen heimliche Ausdrucksmöglichkeiten.

Regisseur Enrique Sánchez Lansch lernte die Tänzerin Sophiline Cheam Shapiro bereits 2014 kennen, als er in Kambodscha Workshops für lokale Filmemacher gab. Schon damals plante die Tänzerin ein Bühnenstück über Pol Pots Beziehung zu seiner Ziehmutter Chea Samy, aber das Projekt zerschlug sich. Den Regisseur allerdings ließ die Idee nicht los. Dass sie erst jetzt verwirklichte wurde, verschafft ihr eine traurige Aktualität. Weltweit sind Diktatoren und Autokraten auf dem Vormarsch, die mit freier Kunst und Kultur ähnlich wenig anfangen können wie Pol Pot. Insofern ist die ästhetisch und inhaltlich überzeugende Tanzdokumentation auch ein Mutmacher, sich nicht unterkriegen zu lassen.

„Pol Pot Dancing“ dokumentiert eine reale Tragödie von Shakespearscher Wucht: Der eigene Ziehsohn wird zum Massenmörder, bedroht das Leben seiner Tante und löscht beinahe eine jahrhundertealte Tanztradition aus. Regisseur Enrique Sánchez Lansch verschmilzt die Wirklichkeit der Gräuel mit der therapeutischen Schönheit des klassischen kambodschanischen Tanzes. Eine Verbeugung vor der Überlebenskraft der Kunst.

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Copyright: jip Film Filmverleih

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Länge: 101min

Kategorie: Dokumentarfilm, Tanzfilm, Politfilm

Start: 05.12.2024

cinetastic.de Filmwertung: (7,5/10)

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Info

Pol Pot Dancing

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 101min
Kategorie: Dokumentarfilm, Tanzfilm, Politfilm
Start: 05.12.2024

Bewertung Film: (7,5/10)

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