Schon mit ihrem Debüt „Aurora“ räumte die finnische Regisseurin Miia Tervo sieben der wichtigsten Filmpreise ihres Heimatlandes ab. Nun folgt ihr zweiter Film, der ebenfalls in Lapplands Hauptstadt Rovaniemi spielt, wo die Regisseurin geboren wurde. Die Tragikomödie „Neuigkeiten aus Lappland“ dreht sich um Niina, eine junge Mutter, die unter ihrem gewalttätigen Ehemann leidet und aus finanziellen Nöten als Reporterin bei einer Lokalredaktion anheuert. Eigentlich ist hier im verschneiten Norden nie etwas los. Doch im Jahr 1984, in dem der Film spielt, passiert etwas Weltbewegendes. Mitten im Kalten Krieg schießen die Sowjets einen Marschflugkörper auf finnisches Gebiet, der womöglich einen Atomsprengkopf trägt. Scharen von Journalisten strömen nach Finnland. Auch Niina lässt sich von den Beschwichtigungsversuchen der finnischen Regierung nicht davon abhalten, eine ganz große Story zu schreiben. Mit Miia Tervo, die auch das Drehbuch schrieb, sprachen wir anlässlich des Filmstarts über staatliche und häusliche Gewalt, über Grenzverletzungen auf nationaler wie persönlicher Ebene. Und wie wir damit besser umgehen können, als sie zu ignorieren.
Ihr Film ist von realen Ereignissen des Jahres 1984 inspiriert. Was ist damals passiert?
Die reale Geschichte war, dass die damalige Sowjetunion am 28. Dezember einen Marschflugkörper auf finnisches Territorium schoss. Die finnische Regierung tat, als sei nichts geschehen. Das war damals deren Strategie, um zu überleben, auch bei früheren Verletzungen des Luftraums. Aber dann forderte die norwegische Regierung, über deren Territorium der Marschflugkörper ebenfalls geflogen war, die finnische Regierung auf, etwas zu tun, denn das Land werde angegriffen. Außerdem gab es internationalen Druck und die Regierung musste sich äußern. Sie tat es vage, es gab kein wirkliches Statement, was dem Vorfall angemessen gewesen wäre. Die Bewohner des betroffenen Gebietes in der Nähe des Inari-Sees reagierten mit Humor. Sie machten Witze, buken Raketen-Donuts und boten eine Missile-Speisekarte an. Das passierte tatsächlich. So etwas ist auch im persönlichen und zwischenmenschlichen Leben eine Überlebensstrategie. Jemand greift dich an und du lachst darüber und sagst: Lass‘ uns vergessen, was passiert ist. Das kenne ich auch von mir selber. Ich versuche manchmal, humorvoll darüber hinwegzugehen, wenn mich jemand verletzt.
Was hat sie motiviert, die alte Geschichte heute noch einmal aufzugreifen?
Ich selber erinnerte mich gar nicht an den Vorfall, denn ich war vier Jahre alt, als das passierte. Aber einmal, als ich mit meinen Freunden zusammensaß, fragte jemand, ob ich noch wüsste, wie damals der Nikolaus die Absturzstelle besuchte und die Leute die Raketen-Donuts aßen. Da begann ich zu recherchieren und fühlte mich sofort in die Geschichte hineingezogen. Denn sie erzählt uns so viel über uns als Nation, aber auch über die menschliche Natur als solche sowie über die Reaktion von Menschen, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden. Warum verhalten wir uns so? Was steckt dahinter? Es gibt ganz viele unterschiedliche Gesichtspunkte und Ebenen, die hier ineinanderfließen.
Mit welchen Leuten konnten Sie während der Recherche reden?
Ich sprach mit Generälen und mit Journalisten. Meine wichtigste Quelle war ein Reporter, der damals für den nationalen Rundfunk berichtete. Er wusste alles über den Vorfall. Ich redete auch mit Militärs und sie sagten mir das, was nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fiel. Außerdem recherchierte ich bei Zeitzeugen, die das miterlebt hatten und interviewte schließlich auch eine Atomphysikerin, die mir erklärte, welche Auswirkungen die nukleare Strahlung gehabt hätte, wenn die Rakete mit einem Atomsprengkopf bestückt gewesen wäre.
Aber im Endeffekt war es keine Atomrakete, oder?
Wir wissen es nicht. Die offizielle Version ist, dass es eine Übungsrakete war, die als Zielscheibe für die Luftabwehr dienen sollte, aber unbeabsichtigt von ihrem Kurs abkam. Sicherlich hätte man nicht so viele Leute in das Gebiet gelassen, wenn man eine erhöhte Strahlung gemessen hätte. Andererseits setzt eine Atomrakete ihre Strahlung erst frei, wenn sie explodiert. Das war hier nicht der Fall. Außerdem landete sie im See, und unter Wasser wird die Strahlung auch nicht in die Luft freigesetzt. Man kann die Sache nicht mit Sicherheit beurteilen, weil es keine gründliche Untersuchung gab.
Sie lassen in Ihrem Film die 1980er Jahre wieder aufleben, mit ihrer Musik, ihrer Kleidung und ihren Frisuren. Wie viel Spaß hat es gemacht, in diese Zeit einzutauchen?
Wir haben so gelacht, dass wir uns fast in die Hosen gemacht hätten. Unsere Haar- und Makeup-Stylistin kommt aus Estland und wir schickten ihr Fotos, über die wir uns kaputtgelacht haben.
Im Film geht es nicht nur um die Grenzen eines Landes, sondern auch um die persönlichen Grenzen von Niina, der Heldin des Films. Ist diese Figur von realen Vorbildern und vielleicht sogar von eigenen Erfahrungen inspiriert?
Ihr Charakter ist zusammengesetzt aus einer Sammlung von Frauen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Unglücklicherweise waren darunter viele, die häusliche Gewalt, andere Formen von Gewalt oder sonstige Grenzverletzungen erlitten hatten. Ich habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum geschlagene Frauen trotzdem mit dem Gewalttäter zusammenbleiben. Als Künstlerin versuche ich immer, die Menschen zu verstehen, sowohl das Verhalten anderer als auch mein eigenes. Ich beobachte schon lange diese Welt, in der das Zuhause kein sicherer Ort ist. Wir Frauen werden oft wie Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt.
Im Film gibt es ja genug Beispiele von sexistischen Sprüchen und übergriffiger Anmache.
In den 1980ern war das noch stärker als heute. Ich habe das noch selbst erfahren. Trotzdem wollte ich keine aggressive Heldin zeigen, die sich offensiv wehrt. Sondern eine Mutter, die lediglich ein normales Leben führen und ihre Empfindsamkeit bewahren will. Denn so sind viele Frauen. Sie wollen nicht zurückschlagen, wenn sie geschlagen werden, und damit männliche Eigenschaften übernehmen, um sich in der Männerwelt ihren Platz zu erobern. Für eine Frau, die Gewalt ablehnt, ist es sehr schwer, mit Gewalt klarzukommen, wenn sie mit ihr konfrontiert wird. Aber das müssen wir. Und deshalb wollte ich eine Frau porträtieren, die diesen nicht-männlichen Weg geht. Für mich ist es eine feministische Errungenschaft, wenn sich eine Frau wehren und trotzdem in einem gewissen Sinn schwach und empfindsam bleiben kann. Wir wollen so respektiert werden, wie wir sind.
Niinas Schwester sagt von ihr, sie sei wie ein überfahrener Wurm, der in Selbstmitleid versinke. Ein solcher Zustand ist natürlich nicht lustig. Warum haben Sie trotzdem eine Komödie daraus gemacht?
Das hat mit der Familienkultur zu tun, die ich auch aus meiner Familie kenne. Wenn es schlimm wird, reagieren wir mit Humor. Das ist eine Art von Erleichterung und es hilft, schwere Zeiten zu überstehen. Nach Beerdigungen wird bei uns am meisten gelacht. Je schrecklicher es ist, umso schräger werden die Witze. Wenn Sie mit jemandem sprechen, der im Beerdigungsinstitut arbeitet, werden sie erfahren, dass dort die übelsten Witze gerissen werden. Sie nutzen Humor, um Spannungen abzubauen und mit schrecklichen Dingen klarzukommen. Aber natürlich ist es, wenn man einen Film macht, immer ein schmaler Grat zwischen Komödie und Tragödie, auf dem man balancieren muss. Ich wollte keinen Film über Gewalt machen, der das Publikum damit erschlägt. Niina ist dank ihres Humors kein Opfer. Er befreit sie und gibt ihr die Macht über ihr Leben zurück.
Die Stilistik des Films und die Lakonie seines Humors erinnern an Ihren Landsmann Aki Kaurismäki. Ist er ein Vorbild für Sie?
Nein. Wir sind beide Finnen und ich liebe Akis Arbeit. Aber meine Filme sind viel gesprächiger, weil in meinem kulturellen Umkreis auch tatsächlich viel geredet wird. Ich komme aus Lappland, aus dem Norden Finnlands. Die Familie meines Großvaters wurde aus Karelien dorthin vertrieben, das heute zu Russland gehört. In Akis Gegend dagegen sagen die Leute lediglich einen Satz pro Stunde. Ich weiß, dass es diese Gegend in Finnland gibt. Aber von da stamme ich nicht.
Schon Ihr Debütfilm „Aurora“ handelte von Alkoholismus. Hier im Nachfolger geht es nun um einen Ehemann, der seine Frau schlägt, wenn er betrunken ist. Wie groß ist das Problem Alkoholismus in Finnland nach ihrer Einschätzung?
Ich denke, es wird besser. Ich hoffe, dass das nicht mit dem Drogenkonsum junger Leute zusammenhängt, der die Alkoholstatistik besser aussehen lässt. Jedenfalls es ist heute viel einfacher, nüchtern zu bleiben, wenn man sich mit Leuten trifft. Als ich 20 war, war es fast unmöglich, einen Drink abzulehnen. Das war so, als würde man nichts essen, wenn man eingeladen war. Die Zahlen zur häuslichen Gewalt haben sich jedoch keineswegs verbessert. Erst kürzlich habe ich von einer Studie gehört, nach der 25 Prozent der Männer unter 35 der Aussage zustimmen, dass man Gewalt gegenüber einer Frau anwenden darf, wenn sie sich unpassend kleidet. Wir Finnen sind eine seltsame Nation. Offiziell und auf Regierungsebene sind wir eines der Länder in der Welt, in denen die größte Gleichberechtigung herrscht. Aber in unseren eigenen vier Wänden sind wir Frauen gefährdeter und haben weniger Rechte als in den meisten europäischen Ländern.
Haben Sie mit dem Drehbuch schon vor dem Beitritt Finnlands zur Nato begonnen?
Ja, es war auch schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine fertig. Ich habe 2018 damit angefangen.
Hatten Sie Zweifel, ob eine Komödie über eine fehlgeleitete russische Rakete noch in die kriegerische Zeit nach dem 24. Februar 2022 passte?
Ich musste darüber nachdenken. Nach dem Überfall waren ich und mein Team so geschockt wie viele andere. Wir saßen ein paar Tage nach der Invasion mit dem Produzenten zusammen und weinten. Wir riefen die finnische Filmförderung und die Geldgeber an, die weinten ebenfalls. Wir überlegten, ob wir diesen Film jetzt noch drehen könnten. Aber alle waren der Meinung, dass wir es jetzt erst recht tun sollten. Denn dadurch würden wir den Unterdrückern keine Macht über uns einräumen.
Zur Person:
Miia Tervo wuchs nahe ihrer Geburtsstadt Rovaniemi auf. Nach der Schule studierte sie kreatives Schreiben in Orivesi sowie Kamerawesen in Turku und an der Aalto-Universität. Von 2005 bis 2015 drehte sie mehrere preisgekrönte Kurzfilme, bevor sie schließlich mit „Aurora“ im Jahr 2019 ihr Langspielfilmdebüt ablieferte. Die Geschichte erzählt von der jungen Aurora, der Mitarbeiterin eines Schönheitssalons. Die trinkfreudige Frau versucht nach einem Leben voller Partys verzweifelt, eine Ehefrau für einen iranischen Flüchtling zu finden, damit er nicht abgeschoben wird. Die Liebeskomödie wurde für insgesamt 14 der finnischen Filmpreise namens „Jussi“ nominiert und gewann in sieben Kategorien. Unter anderem wurde Miia Tervo für die beste Regie und das beste Drehbuch ausgezeichnet.