20 Jahre hat er darauf hingearbeitet, nun geht der Traum in Erfüllung: Iman (Misagh Zareh) wird Ermittlungsrichter am iranischen Revolutionsgericht. Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß. Obwohl absolut regimetreu, glaubt der Familienvater noch an Prinzipien. Er will erst die Akten studieren, bevor er ein Urteil unterschreibt oder gar die Todesstrafe verhängt. Doch dazu lassen ihm seine Vorgesetzten keine Zeit. Zumal gerade die Proteste des Jahres 2022 ausbrechen. Die Losung „Frau, Leben, Freiheit“ hallt nach der tödlichen Polizeigewalt gegen Jina Masha Amini wegen eines angeblich schlecht sitzenden Kopftuchs durch Teherans Straßen. Während Imans Frau Najmeh (Soheila Golestani) lange Zeit loyal zu ihrem Mann steht, hegen die fast erwachsenen Töchter Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) durchaus Sympathien für die Forderungen der Frauenbewegung. Regisseur Mohammad Rasoulof verschmilzt Familiendrama und Politfilm zu einem wuchtigen Thriller, der seine Kraft aus der Wahrhaftigkeit bezieht.
Eigentlich glaubte man, alles über die blutig niedergeschlagenen Proteste zu wissen. Doch das dokumentarische Handy-Material, das Rasoulof in seinen Spielfilm einschneidet, übertrifft die damaligen Fernsehbilder bei Weitem. Sicherheitskräfte schießen wahllos in Autos, schlagen auf wehrlos am Boden Liegende ein, vergreifen sich an Kindern. Noch drastischer führt eine Spielfilmsequenz das Ausmaß der Gewalt vor Augen. Tochter Rezvan bringt ihre Freundin Sadaf (Niousha Akhshi) schwerverletzt zu sich nach Hause. Mutter Najmeh versorgt in einer langen Einstellung deren Wunden. Mit der Pinzette zieht sie vorsichtig kleine Kugeln aus Sadafs linker Gesichtshälfte. Man hatte ihr mit einer Schrotflinte direkt ins Gesicht geschossen. In Zeitlupe spült die Mutter die Kugeln ins Waschbecken, das Blut an ihren Händen lässt sich kaum abwaschen.
Vielfach ist das iranische Kino dafür gelobt worden, dass es subtile Meisterwerke hervorbringe, trotz und gerade wegen der Zensur. Mohammad Rasoulof, der wegen seiner künstlerischen Arbeit zu acht Jahren Haft verurteilt wurde und kurz vor dem diesjährigen Festival in Cannes heimlich aus dem Iran nach Europa floh, geht mit seinem neuen Werk einen anderen Weg. Die Kritik an seinem Land ist ungeschminkt, furchtlos und allein dem Willen verpflichtet, der Welt die Wahrheit zu zeigen. Das macht „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ aber nicht zu einem Pamphlet, sondern zu einem cineastischen Kunstwerk, das beides zugleich ist: ästhetisch brillant und politisch aufrüttelnd. Wer sich nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Mullah-Diktatur interessiert, wird den Film auch in erster Linie als vielschichtiges Familiendrama genießen können. Ganz zu schweigen von der meisterlichen Spannungsdramaturgie, die allein den Kinobesuch lohnt.
Keinem Zuschauer wird die Pistole entgehen, die immer wieder ins Bild gerückt wird. Und das aus mehrfach guten Gründen. Zum einem folgt der Film damit der klassischen Kinoregel, dass aus einer solchen Waffe irgendwann auch gefeuert werden wird, spätestens beim auch hier spektakulären Showdown. Zweitens steht die Waffe, die dem frisch gebackenen Untersuchungsrichter zu Verteidigungszwecken ausgehändigt wird, auch für die Gewalt, die das Land nicht erst seit den „Frau, Leben, Freiheit“-Demonstrationen durchzieht. Und drittens ist der Revolver auch Auslöser des Thrills. Denn irgendwann ist er aus der heimischen Nachttisch-Schublade verschwunden. Falls der Untersuchungsrichter ihn nicht wiederfindet, drohen ihm das vorzeitige Ende seiner Karriere und sogar eine Haftstrafe.
Während der Proteste des Jahres 2022 saß Mohammad Rasoulof im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis. In den Augen des Regimes hatte er mit seinen drei vorigen Filmen „Propaganda gegen das System“ betrieben. In der Haft lernte er einen leitenden Angestellten der Anstalt kennen, der ihm gestand, er wolle sich am liebsten erhängen – wegen dem Hass auf seine Arbeit und den übermächtigen Gewissenbissen. Ein wenig davon ist auch in die Figur des Ermittlungsrichters eingeflossen. Imans Charakter ist nicht sadistisch, er wird nicht als Unmensch gezeichnet, sondern als sorgender Familienvater, ähnlich dem Familienvater Heshmat aus der ersten Episode von Rasoulofs „Und das Böse gibt es nicht“ (2020), dem Gewinner des Goldenen Bären bei der Berlinale. Es sind nicht die Menschen, die ihre Familien und das Land ruinieren. Es ist das System, das sie kaputtmacht.
Noch vielschichtiger ist die Figur von Ehefrau und Mutter Najmeh gezeichnet. Obwohl sie ihrem Mann den Rücken freihält, fordert sie ihn auch und balanciert zudem die Konflikte zwischen Vater und Töchtern aus, so gut und so lange es geht. Jede und jeder aus der Familie erscheint so authentisch, wie man es von anderen iranischen Meisterregisseuren kennt, allen voran Asghar Farhadi („Nader und Simin – Eine Trennung“, 2011). Aus dem feinen Netz von Zärtlichkeit und Fürsorge, von Ängsten und Verrat spinnt Mohammad Rasoulof jene Zündschnur, die den Traum von einem liebevollen Zuhause unter dem Druck des Systems schließlich explodieren lässt.
Trotzdem ist „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ kein pessimistischer Film. Sein Ende gehört den dokumentarischen Handyvideos. Sie zeigen dieses Mal nicht die staatliche Brutalität. Sondern fröhliche Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen und die Finger zum Siegeszeichen spreizen. „German Films“, die Auslandsvertretung des deutschen Films, hat die Fackel der politischen Botschaft inzwischen aufgenommen. Sie schickt die Koproduktion als deutschen Beitrag ins Oscar-Rennen um den besten nicht-englischsprachigen Film. Kein schlechtes Zeichen angesichts der lange nachgiebigen Haltung der deutschen Regierung gegenüber dem Mullah-Regime.
„Die Saat des heiligen Feigenbaumes“ erzählt von der Familie eines iranischen Ermittlungsrichters, deren liebevolles Miteinander dem Druck des Systems nicht mehr standhält. Regisseur Mohammad Rasoulof lässt jegliche Rücksicht auf die Zensur fahren und inszeniert ein ebenso berührendes wie spannendes Thriller-Drama, das an politischer Wahrhaftigkeit nichts zu wünschen übrig lässt.