Sein bester Freund nannte ihn einen „meditativen Biber“. Das ist eine treffende Bezeichnung für die inneren Spannungen der Persönlichkeit von Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe), des „Vaters der Armen“, der in Frankreich für sein soziales Engagement wie ein Nationalheiliger verehrt wird. Einerseits hat der als Henri Grouès geborene Priester, Sohn eines reichen Seidenfabrikanten, wie ein Biber ungeheuer viel aufgebaut, vor allem die weltweit aktive „Emmaus“-Organisation zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit und Elend. Andererseits war der kämpferische und charismatische Redner auch jemand, der sich ständig hinterfragt hat und in Selbstzweifeln um den Sinn seiner Bestimmung auf Erden kreiste. Sein bewegtes Leben ist an sich schon filmreif, und tatsächlich gibt es bereits Dokus und Spielfilme über ihn, unter anderem „Winter 54“ (1989) von Denis Amar mit Lambert Wilson als Abbé Pierre. Nun hat Regisseur Frédéric Tellier („Goliath“, 2022) eine umfassende Filmbiografie vorgelegt, die sich über 60 Jahre erstreckt.
Ein Kapuzinerkloster in der Auvergne im Jahr 1937: Das Leben ist hart für die Anhänger des heiligen Franziskus, besonders im Winter, wenn die Hände bei der Feldarbeit fast erfrieren. Sieben Jahre lebt der junge Mönch Henri Grouès schon bei den frommen „Brüdern“. Er hat die privilegierte Kindheit eines Unternehmersohns hinter sich gelassen, alle seine Besitztümer verschenkt. Aber das reicht nicht. Der Mönch ist „zu labil“ und ständig krank, wie der Abt befindet. Henri wird das Kloster verlassen müssen, man empfiehlt ihm eine ruhige Pfarrei in seinem alten schönen Viertel in Lyon. Aber es kommt anders. Der Sohn aus reichem Hause wird seine Kränklichkeit überwinden, er wird auf Seiten der Résistance gegen die Nazi-Deutschen kämpfen und dabei den Untergrund-Namen „Abbé Pierre“ annehmen. Es folgen Karrieren als Politiker und Wohltäter. Und nach dem strengen Winter 1954, als er das Erfrieren der Obdachlosen anprangert und zu einer überaus erfolgreichen nationalen Spendenaktion aufruft, nutzt er seine Popstar-ähnliche Berühmtheit medienwirksam für die Sache der Wohnungslosen und Armen.
2007 ist Abbé Pierre nach einem abenteuerlichen Leben im Alter von 94 Jahren gestorben. Frédéric Telliers Biopic macht deutlich, wie sehr er uns heute fehlt. Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer, die Gier wächst ins Unermessliche und die Botschaft der Solidarität wird kaum noch gehört. Die Aktualität gehört zu den Pluspunkten des Films, ebenso wie die liebevoll und zugleich spannungsreich gezeichnete Beziehung zu Lucie Coutaz (Emmanuelle Bercot), die den Abbé vor der Gestapo rettete und später seine engste Mitstreiterin wurde. Ihre Kritik, so zeigt es der Film, hat Pierre immer ernst genommen. Dabei sparte sie nicht an Deutlichkeit. „Sie sind ein Traumtänzer“, sagt sie einmal und umreißt damit, was sie gemeinsam so stark machte: die Mischung aus Idealismus (Pierre) und Pragmatismus (Lucie). Ebenso schön inszeniert ist die Bindung zwischen Pierre und seinem Jugendfreund François Garbit (Antoine Laurent). Der stirbt zwar bereits im Zweiten Weltkrieg, ist aber weiterhin präsent im Imaginären, wenn Pierre über sein Leben nachdenkt, Rat braucht und in einen produktiven Austausch mit dem geistigen Gegenüber tritt. „Was würde François dazu sagen“ wird geradezu zum Leitmotiv der meditativen Passagen.
Allerdings bettet der Film seine Nachdenklichkeit in einen viel zu hektischen Rahmen. Um die 60 Jahre in 138 Minuten zu durchschreiten, braucht es allzu häufige Zeitsprünge. Nicht nur einmal enden dadurch Entwicklungen abrupt und lassen Fragen offen, die man gerne vertieft hätte. Vieles kann so nur angerissen werden und insgesamt macht sich der Eindruck breit, dass weniger mehr gewesen wäre. Um manche Zusammenhänge zu verstehen, muss man sogar bei Wikipedia nachlesen. Insofern wird die chronologisch-konventionelle Erzählung bei einem derart wechselhaften und aufregenden Leben wie dem von Abbé Pierre zur Falle. Sie suggeriert eine Vollständigkeit der Lebensabschnitte, die sowieso nicht zu erreichen ist, und hechelt atemlos von Ereignis zu Ereignis, statt sich auf ein paar wenige, aber prägende Erlebnisse zu konzentrieren.
Das schmälert allerdings nicht das facettenreiche Bild, das der Film von dem Porträtierten zeichnet. Gerade wenn man kaum mit Person und Wirken von Abbé Pierre vertraut ist, wie dies in Deutschland auf nicht wenige zutreffen wird, überstrahlt dessen Charisma die Schwächen des Films. Dass es einen solchen Menschen gegeben hat, macht Mut, nicht vor den aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen zu resignieren. Abbé Pierre – auch das zeigt der Film – hat klare Worte für Jean-Marie Le Pen gefunden, den Vater der heutigen Chefin der französischen Rechtspopulisten. Und er hat öffentlichkeitswirksam in einer Unterkunft für Geflüchtete übernachtet. Auf diese Idee ist in letzter Zeit kein einflussreicher „Promi“ mehr gekommen.
Verehrt wie ein Nationalheiliger, bekannt wie ein Popstar: Über den französischen Priester und Sozialaktivisten Abbé Pierre hat Regisseur Frédéric Tellier eine vielschichtige Filmbiographie gedreht. Die Strahlkraft der Person hilft dabei über dramaturgische Schwächen hinweg.