Die klarsten Gedanken hat man oft beim Gehen. Der Amerikaner Solomon, ein absoluter Fan des Jakobsweges, teilt zum Beispiel das Handeln des Menschen in drei Kategorien ein. Erstens in Dinge, die man für sich selbst tut. Zweitens in Dinge, die man für andere tut. Und drittens in Dinge, die zugleich anderen helfen, wenn man sie für sich selbst tut. Zur letzten Kategorie rechnet Solomon die meditative Wirkung des Fernwanderns, die einen nicht nur zu sich selbst kommen lässt, sondern auch für andere öffnet. Vor zehn Jahren ging er zum ersten Mal den Pilgerweg „Camino de Santiago“. Die Erfahrung von damals hat ihn genauso wenig losgelassen wie Sascha Günther, der seine Erlebnisse nun in einem Dokumentarfilmdebüt verarbeitet. Und zwar nicht nur seine eigenen, sondern die von acht Menschen, die er 2013 getroffen hat und mit denen er seitdem befreundet ist. 2023 kehrt er zurück und trifft sie wieder – in einer Ode an die Freundschaft, an die lebensverändernde Kraft des Wanderns und an die Vielfalt der individuellen Erfahrungen. Jede und jeder läuft seinen eigenen Jakobsweg. Und alle finden etwas sehr Persönliches.
Bevor es so richtig zurück nach Frankreich und Spanien geht, sitzen wir aber zuerst in Hannover, in Saschas Günthers Wohnzimmer. Der 48-Jährige hat nämlich einen radikal subjektiven Film gedreht, eine Ich-Erzählung, bei der er immer wieder direkt in die Kamera spricht, gleichsam auf Augenhöhe mit dem Publikum, wie zu Freunden und Bekannten, die man zum Abendessen eingeladen hat. Der Regisseur erzählt von der tiefen Lebenskrise im Jahr 2013, als er seinen Job verlor und sowohl finanziell wie emotional am Ende war. Er spricht von dem Vakuum, das er fühlte, als er losging. Und wie er bereit war, jeglichen neuen Eindruck aufzusaugen. Wie er zum Beispiel die Gemeinschaft von modernen Pilgern empfand, die bei aller Unterschiedlichkeit eines eint: Sie fragen sich, ob sie heute noch etwas zu essen bekommen, ob es ein Dach über dem Kopf gibt und vielleicht sogar eine heiße Dusche. Das schweißt zusammen und lässt mit der Zeit das Gefühl entstehen, dass einem am Ende des Tages nichts Schlimmes passieren wird, egal wie verzweifelt man sich momentan fühlen mag.
Sascha Günther trifft also den Deutschen Thomas, die Französin Anaïs, die Spanierin Iratxe, den bereits erwähnten Amerikaner Solomon sowie die Spanier Ana, Alejandro, Christina und Virginia. Sie alle erzählen neben ganz Persönlichem von dem, was schon in unzähligen anderen Filmen über den Jakobsweg Thema war, unter anderem auch in dem berühmtesten: „Ich bin dann mal weg“ (2015) von Julia von Heinz. Sie reflektieren über Selbstfindung, spirituelle Erlebnisse, das Eintauchen ins Hier und Jetzt, jenseits alltäglicher Verpflichtungen und Sorgen. Aber „Almar – der Ruf des Jakobsweges“ hat auch einen eigenen Ansatz, der ihn von anderen Arbeiten unterscheidet. Er versucht nicht, die Erfahrung von 2013 zu wiederholen, sondern reflektiert sie. Er spürt den Veränderungen nach, die das Leben in ein „Vor dem Camino“ und ein Danach einteilen. Dabei ist er sich bewusst, dass man niemals in denselben Fluss steigt. Deshalb lässt er seine Protagonistinnen und Protagonisten aus heutiger Sicht erzählen, wie sie die Erfahrung vom damals beurteilen.
Schon die aktuelle Route ist nicht dieselbe. Während Sascha Günther und seine Freunde sich vor elf Jahren auf dem Hauptweg trafen, erkunden sie nun zwei der unzähligen Nebenstrecken: den Camino del Norte (Baskenland und Kantabrien), der nahe der Küste verläuft, sowie den Camino Primitivo (Asturien und Galicien), die älteste der Pilgerstrecken. Gemäß seiner Grundidee ist vieles in diesem Dokumentarfilm keine Begleitung des echten Lebens mit der Kamera, sondern eine ganz bewusste, durchgeplante Inszenierung. Die Treffen mussten vorbereitet werden. Und die Wanderungen konzentrieren sich auf die landschaftlich schönsten Abschnitte.
Das wirkt sich in der Bildsprache aus, die oft an Postkartenidyllen vorbeischrammt. Überhaupt kommt es Sascha Günther und seinem Produzenten Constantin Löhrmann („Nordlicht – Der Nordseefilm“, 2022) auf das Optimistische, visuell Reizvolle und Schöne an. Auch in der Musik spiegelt sich die positive, lebensbejahende Haltung wider. Dem Regisseur, der seit seinem 17. Lebensjahr Schlagzeug spielt, war bei seinem ersten Jakobsweg aufgefallen, wie oft abends in geselliger Runde gesungen wurde. Wieder zu Hause, schlug er denjenigen mit besonders schönen Stimmen vor, gemeinsam eine CD zu machen. Sie heißt sinnigerweise „Walk with me“ und erschien 2015 mit Unterstützung von Jens Eckhoff alias Jean-Michel Tourette („Wir sind Helden“). Die Lieder bilden nun auch einen Teil des filmischen Soundtracks, der insgesamt von Jens Eckhoff verantwortet wird.
Manches in „Almar – der Ruf des Jakobsweges“ wirkt geschönt und gerät in die Nähe eines Werbefilms für etwas, was gar keine Werbung nötig hat, denn der Camino erfreut sich ungebrochener Beliebtheit. Andererseits ist die Unbekümmertheit auch erfrischend, mit der Sascha Günther, der keine Filmhochschule besucht hat, seine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen möchte. In den immer wiederkehrenden Passagen, in denen der Regisseur direkt in die Kamera spricht, überträgt sich die Leidenschaft für sein Anliegen: dem Zuschauer Mut zu machen, diese Erfahrung zu wagen. Und sie nicht mit vielerlei Ausreden auf später zu verschieben.
„Almar – der Ruf des Jakobsweges“ unterscheidet sich von anderen Filmen über den Camino insbesondere dadurch, dass er die Freundschaften feiert, die dort geschlossen werden. Dokumentarist Sascha Günther setzt auf einen radikal subjektiven Ansatz. Und auf die optimistische Lebenshaltung, die das Fernwandern vermitteln kann.