Macht und Vergessen sind Verbündete. Nur wo das „nie wieder“ keine Chance hat, können Regierende die Schrecken vergangener Kriege ignorieren und neue beginnen. An kaum einem anderen Ort lässt sich das so anschaulich erleben wie auf dem ehemaligen Militärstützpunkt und Truppenübungsplatz Wünsdorf, rund 40 Kilometer südlich von Berlin. Zunächst Kriegsgefangenenlager im Ersten Weltkrieg, dann Oberkommando der deutschen Wehrmacht in der Nazi-Zeit und schließlich Stützpunkt der Sowjet-Armee im Kalten Krieg – so lauten die unrühmlichen Stationen eines Ortes, an dem Erinnerungskultur kaum Chancen hatte. Vielleicht bis jetzt. Denn seit 2015 propagiert der Stadtökologe Professor Ekhart Hahn zusammen mit anderen Architekten dort eine „Eco City“ für rund 10 000 Menschen. Dokumentarfilmerin Elfi Mikesch interessiert sich für beides: für die schaurig-schöne, einst verbotene Stadt, und für den Versuch, im Frieden mit der Natur zu leben.
„Könnte es sein, dass wir nichts lernen und erneut Kriege anzetteln“, überlegt besorgt eine Frau, die als Kind in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs spielte. Auch diese Frage, die mit Blick auf die Ukraine besondere Aktualität gewinnt, steht im Raum. Denn Elfi Mikesch („Fieber“, 2014), Regisseurin, Kamerafrau und Fotografin, hat keinen Thesenfilm gedreht, sondern einen Essay. Also eine Collage aus Bildern, künstlerischen Darstellungen, Gesprächen und Erkundungen, die zum neugierigen, unvoreingenommenen Schauen anregen. Die Regisseurin, Jahrgang 1940, ist eine Frau der Bilder. Sie hat in opulenten Werken von Werner Schroeter („Der Rosenkönig“, 1984, „Malina“, 1991) die Kamera geführt und über ihn den Dokumentarfilm „Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter“ (2011) gedreht.
Immer wieder macht sich in „Krieg oder Frieden“ die ruhig schwebende Kamera (neben Mikesch auch Thomas Ladenburger) auf den Weg durch Innen- und Außenräume. Sie registriert, wie sich die Natur verfallende Gebäude zurückholt. Sie zeigt, wie Wandgemälde abblättern, wie der Stuck an der Decke des militäreigenen, riesigen Theatersaals (einst 600 Sitzplätze) zerbröselt. Und sie besucht Menschen, die auf dem verlassenen Gelände arbeiten, als bildende Künstler, Hausmeister oder Militärhistoriker. Kurioses reiht sich hier an Erschreckendes, Gigantisches an unerwartete Kleinode, Kaputtes an Schönes.
Zur Vielfalt gehören zudem Filmausschnitte, etwa von Mikesch selbst („Gefährliche Orte“,1993 bis 1996) oder Philip Scheffner („The Halfmoon Files“, 2007), aber auch Songs und Texte, die von Schauspielerin Eva Mattes gelesen werden, der prominentesten Unterstützerin des Eco-City-Projekts. Aus all dem wird klar: Lustig war das Soldatenleben in den Kasernen nicht, sämtlichen Freizeitangeboten wie Sauna, Schwimmhalle, Kino oder Theater zum Trotz. Denn „Krieg ist kein Ereignis“, heißt es in einem Text, den Eva Mattes vorträgt. „Er ist eine eigene Welt“, selbst in der Vorbereitung. Im Krieg ist das Leben ein anderes, ohne Freiheit, ohne Zukunft, ohne Hoffnung. Alles verändert sich, auch die Persönlichkeit und die Worte. Die Soldaten von Wünsdorf schrieben in ihren trostlosen Graffitis: „Nur unsere Mütter warten auf uns“. Und trotzdem zerstören die Söhne und Enkel derer, die hier dank Michail Gorbatschow 1994 abzogen, nun die Ukraine.
„Heilung“ habe der ehemalige Militärstandort nötig, befindet Professor Ekhart Hahn, der hier nicht nur eine lang gehegte Vision von der Kreislaufwirtschaft und von der autarken Energieversorgung einer Vorzeigestadt realisieren will, sondern sich sehr genau mit dessen Geschichte befasst hat. Der emeritierte Wissenschaftler spricht von einer „Katharsis“ des Denkens und Fühlens, um die aktuelle Menschheitskrise ins Positive zu wenden: weg vom Gegeneinander und von der Ausgrenzung, hin zu einer gemeinschaftlichen Bewältigung der ökologischen Herausforderung. Hahn plädiert dafür, Mangel durch Ästhetik auszugleichen, wie es die Japaner in ihrer Architektur und Stadtplanung getan hätten. Die geplante Eco-City müsse als Modellstadt eine höhere Lebensqualität bieten als „normale“ Gemeinden, denn sonst würde niemand dem Vorzeigeprojekt folgen.
Ob die Pläne jemals Realität werden können, steht in den Sternen. Das Stadtparlament von Zossen, zu
dem Wünsdorf gehört, hat schon dagegen gestimmt. Und die Entwicklungsgesellschaft des Landes Brandenburg, die als Eigentümerin des Geländes schon mit vielen Projektentwicklern erfolglos verhandelte (Luxushotel, Sportstätte, Beamtenstadt), verweist darauf, dass ein Drittel der für Eco-City anvisierten Fläche anderweitig verkauft ist. Falls nichts daraus wird, besteht die Gefahr, dass die „Konversion“ genannte Umnutzung ehemaliger Militäreinrichtungen das Erinnern ausradiert, statt „Stolpersteine“ des Gedächtnisses stehen zu lassen. Solch ein Mahnmal ist allerdings der Film selbst. Es ist seine größte Errungenschaft: durch die Kraft seiner Bilder das Bewusstsein zu schärfen. Dafür, welcher Wahnsinn von deutschem Boden ausging, und dafür, aus welcher leider wieder aktuellen Gesinnung – Stichwort Fremdenfeindlichkeit – der Irrsinn entsprang. Wie man anders leben könnte, dafür stehen die Künstler und Denker des Films. Und das cineastische Kunstwerk als solches, das in seiner offenen Machart zum Mitdenken einlädt.
„Krieg oder Frieden“ entführt in das Mahnmal einer verbotenen Stadt. In ihrem bildstarken Essay fragt Regisseurin Elfi Mikesch: Wie verhindert man das Vergessen? Und wie neue Kriege? Glasklare Antworten gibt der Film nicht. Aber sehr viele Anregungen zum Weiterdenken.