Der in Russland aufgewachsene Regisseur Victor Kossakovsky ist einer der größten Poeten des Dokumentarfilms. Seine grandiosen Bilder setzen Assoziationsketten in Gang und regen so das Denken an, ohne mit Thesen, Interviews oder Zitaten von Experten überzeugen zu wollen. Dennoch ist sein Kino höchst engagiert. In „Aquarela“ (2018) etwa zelebriert er die Bedeutung des Wassers für unser Leben und inszeniert die Bedrohung durch den Klimawandel. „Gunda“ (2020) hat wohl manchen Zuschauer zum Vegetarier werden lassen. Die Schwarzweißbilder betrachten das titelgebende Hausschwein, das gerade Nachwuchs bekommen hat, bis zum bitteren Abtransport der Ferkel zum Schlachthof. In seinem neuen Film „Architecton“ beschäftigt sich Kossakovsky mit der Art und Weise, wie wir bauen. Und damit, welche Kosten wir mit der massenhaften Produktion von Zement und Beton auf folgende Generationen abwälzen. Zum Filmstart sprachen wir mit dem Regisseur über das Tempelhof-Gelände in Berlin, die Machart seiner Filme und warum das Sehen die Basis des Kinos ist, nicht das Geschichtenerzählen.
Sie leben in Berlin. In welcher Wohnung oder welchem Haus wohnen Sie?
Meine Wohnung liegt in einem Haus, das auf den ersten Blick rechteckig aussieht. Aber wenn man darum herumgeht, hat es eine ungewöhnliche Form. Man fragt sich, warum. Und dann sieht man eine alte Eiche. Der Bauherr oder der Architekt wollte den Baum nicht fällen, obwohl er dadurch mehr Wohnraum gewonnen und mehr Geld verdient hätte. Das ist wirklich sehr bemerkenswert und schön. Wenn ich aus meinen Fenster schaue, sehe ich eine 150 Jahre alte Platane. Das ist interessant, denn sie blickt auch auf den Mehringdamm und die Paradestraße. Man kann sich vorstellen, wie sich dieser Baum an Millionen von Menschen erinnert, die dort vorbeiliefen oder -fuhren. Oder auch an den Flughafen Tempelhof, den man von dort aus sehen kann. Der Baum hat die ganze Geschichte dieses Flughafens miterlebt.
Der inzwischen stillgelegte Flughafen hat auch Ihren Film inspiriert, oder?
In der Pandemie bin ich oft auf dem Tempelhofer Feld spazieren gegangen. Die Berliner haben sich gegen eine Bebauung des ehemaligen Flughafen-Areals gewehrt und es vorerst geschützt. Ich sehe darin ein Symbol unserer Zeit. Das Gelände liegt mitten in Deutschland, im Zentrum von Berlin, und die Einwohner dieser Stadt sagen Nein zu einer Bebauung. Ich weiß nicht, wie lange dieser Widerstand Erfolg haben wird, denn eines Tages wird das Geld siegen und man wird Wolkenkratzer dort bauen. Ich entschied mich, Briefe an die hundert bedeutendsten Architekten der Welt zu schreiben. Darin bat ich sie, etwas wirklich Schönes vorzuschlagen, nicht einfach nur Einkaufszentren und Bürogebäude mit langweiliger Gestaltung. Sondern etwas Wertvolles, das für die nächsten hundert Jahre Bestand hat. Das Interessante war, dass sie keine Antwort hatten. Jemand schlug eine Universität vor, aber Wissenschaftler sagen, dass wir in 30 Jahren keine Universitäten mehr brauchen, weil man sich die besten Professoren der Welt zu Hause online anhört. Ein anderer schlug eine Bibliothek vor, aber das ist nur etwas für Akademiker. Und überhaupt ersetzt das Smartphone quasi die Bibliothek. Weitere Vorschläge waren Zentren für plastische Chirurgie, Fitnesszentren oder Reitplätze. Aber niemand wusste etwas, das für die Zukunft taugt.
Den radikalsten Vorschlag hatte dann Michele De Lucchi, der Architekt, der dadurch zum Protagonist Ihres Films wurde. Wie kam das?
Michele sagte, es sei schön und gut, dass das Tempelhofer Feld als Park genutzt werde. Aber das war ihm nicht genug. Er schrieb, dass man das Areal gar nicht mehr betreten, sondern es der Natur zurückgeben sollte, als ein Stück Land, in das der Mensch nicht mehr eingreift.
Würden Sie sagen, „Architecton“ ist ein Film über Architektur? Oder eher einer über Felsen und Steine?
Das kann ich nicht in letzter Konsequenz beantworten. Ich würde nicht sagen, dass es ein Film über Architektur ist. Der Film dreht sich eher um meine Gedanken über den Platz des Menschen. Wir rechtfertigen unter dem Deckmantel des Humanismus alles, was wir tun, indem wir sagen, es dient unserem Wohl. Wir töten 170 Millionen Tonnen Fische und 115 Millionen Tonnen Schweine weltweit jedes Jahr. 700 Berge verschwinden, um Zement zu produzieren, und das in einem einzigen Land. Eine mittelgroße Zementfabrik verbraucht 26 Tonnen Kohle pro Stunde. Wir produzieren so viel Zement, dass wir eine Mauer um die Erde bauen könnten, die einen Meter dick und tausend Meter hoch ist. Aber wir sagen, das ist okay, wir brauchen es für die Wohnungen der Menschen. Wir glauben, wir seien so wichtig, dass wir alles tun können, was immer wir wollen, ohne an andere Lebewesen oder an die Natur oder an die Konsequenzen unseres Handelns zu denken.
Wir denken ja nicht einmal an unsere eigene Zukunft als Menschheit.
Das Interessante daran ist, dass wir glauben, all das ist bequem, billig und ökonomisch sinnvoll. Aber das stimmt nicht. Manche Architekten sprechen von nachhaltiger Architektur. Wirklich nachhaltig sind in meinen Augen die Pyramiden in Ägypten. Sie stehen dort seit über 4500 Jahren. Wenn Sie etwas bauen und ihr Enkel es komplett sanieren muss, dann ist es nicht nachhaltig. Wirkliche Nachhaltigkeit ist preiswert. Wir bauen heute nicht mit Steinen, die ewig halten, weil wir das für teuer halten. In Wahrheit wäre es teuer für uns, aber billig für unsere Söhne und umsonst für unsere Enkel. Wir bauen aber lieber etwas Billiges für uns, ohne an unsere Söhne und Enkel zu denken.
Wie haben Sie die Schauplätze für den Film gefunden?
Kennen Sie die Arbeiten des italienischen Kupferstechers, Archäologen, Architekten und Architekturtheoretikers Giovanni Battista Piranesi?
Nein.
Er hat vor über 200 Jahren eine Kunstbewegung mitbegründet, die sich mit den Ruinen des Altertums beschäftigte. Damals glaubte man nicht, dass seine Kupferstiche alter Tempelanlagen echt seien. Man dachte, er habe sie erfunden. Aber tatsächlich waren sie so real und genau, als hätte er die heiligen Stätten fotografiert, hundert Jahre vor der Erfindung der Fotografie. Ich entschied mich, diese Orte zu suchen und dort zu drehen. Daher kommt auch die Schwarz-Weiß-Ästhetik in diesen Teilen des Films. Wir haben die alten Tempel und Ruinen so aufgenommen, als seien sie Kupferstiche von Piranesi.
Sie zeigen überwältigende Bilder von Felsrutschen und von Steinen, die gesprengt werden. Wie haben sie die eingefangen? Ist es nur die Zeitlupentechnik oder gab es da weitere filmische Tricks?
Als professioneller Filmemacher sehe ich es als meine Aufgabe an, Bilder zu schaffen, die man im normalen Alltag nicht sieht. Jeder hat heute ein Smartphone und kann damit filmen. Als Profi habe ich den Anspruch, etwas Besonderes zu machen, von dem keiner weiß, wie es gefilmt wurde, nicht einmal meine Filmemacher-Kollegen. In jedem meiner Filme habe ich ein paar Szenen oder eine Episode, von denen niemand sagen kann, wie sie gemacht wurden. Ich bin davon überzeugt und plädiere dafür, dass Kinofilme auf der großen Leinwand gesehen werden sollten. Sie sollten fantastisch aussehen. Für mich ist es entscheidend, dass Leute ins Kino gehen und danach sagen, dass sie so etwas noch nie gesehen haben.
Ihre Filme zeigen eine große Liebe zur Natur. Möchten Sie, dass sich diese Liebe aufs Publikum überträgt?
Nicht nur Liebe, sondern auch Respekt. Denken Sie nur an ein Phänomen wie das der Mondfinsternis. Ist es nicht fantastisch, dass unsere Himmelskörper exakt einen solchen Abstand haben, dass sich der Schatten der Erde genau über die Größe des Mondes legt und dass die Sonne genau diesen Schatten der Erde auf den Mond wirft? Denken Sie darüber nach: die Größe unserer Erde, die Größe des Mondes und der enorme Abstand dazwischen – ist das nicht wie ein Wunder? Und ist es nicht fantastisch, dass wir hier auf der Erde genau die Temperatur haben, in der wir leben können? Wären wir hunderttausend Kilometer näher an der Sonne, wäre es zu warm für uns. Und zu kalt, wenn wir weiter weg wären. Das bedeutet, wir sind total abhängig von der Natur und total verbunden mit ihr, also verbunden mit dem Architekten des Universums.
Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der Begriff „Architecton“ eine Doppelbedeutung?
Am Ende von „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi hat sich Pierre Besuchow, eine der Hauptfiguren, in seinem Leben total verrannt. Er schaut in den Himmel sagt: „Großer Architecton der Natur, hilf mir, aus diesem Labyrinth der Lügen herauszufinden“. Das heißt: Er versteht, er kann nicht irgendeinen Menschen fragen, sondern muss sich an den Architekten des Universums wenden. Interessanterweise wurde „Architecton“ durchgängig falsch mit „Architekt“ in andere Sprachen übersetzt. Tatsächlich bezeichnet „Architecton“ den Chef der Architekten, wenn mehrere von ihnen am selben Projekt arbeiten. Außerdem wird der Begriff auch für jemanden verwendet, der dieses Universum erschafft. Gemeint ist nicht eine traditionelle Gottesvorstellung, sondern der „Architecton“ des Universums.
Ihre Dokumentarfilme sind viel schöner und bildgewaltiger als die meisten Spielfilme. Wie wichtig ist Ihnen die Ästhetik im Dokumentarfilm?
Das ist für mich das wichtigste. Ich war gerade auf den Filmfestspielen in Venedig und habe dort Produzenten und Regisseure getroffen. Alle sagten, wir brauchen gute Geschichten. Ich bin anderer Meinung. Wir haben genug Geschichten. Die Frage ist vielmehr, welcher Filmemacher kann besser sehen als ein normaler Mensch. Ein ausgebildeter Sänger kann ja auch besser singen als ein normaler Mensch. Er kann seine Stimme modulieren und in einer Weise benutzen, die uns so sehr berührt, dass wir weinen müssen. Ebenso verhält es sich mit einem Schriftsteller, der die Worte anders zusammenfügt als im Alltag. Ein Filmemacher schaut in dieselbe Richtung wie andere Menschen, aber er kann etwas anderes sehen. Das ist die Basis des Kinos. Wir müssen zeigen, nicht erzählen. Das heißt, man muss den Menschen etwas geben, was sie noch nie gesehen haben. Natürlich haben sie zum Beispiel diesen Baum oder diesen Stein gesehen. Aber nicht in der Art und Weise, wie er auf der großen Leinwand erscheint. Das Kino wird existieren, solange Filmemacher Bilder erschaffen. Wenn man nur eine Geschichte erzählen will, kann man auch ein Buch schreiben.
Ihre Filme sprechen für sich selbst, sie brauchen keinen Kommentar und haben auch keinen. Der Epilog von „Architecton“ macht davon aber eine Ausnahme. Warum?
Ich bin mir mittlerweile nicht mehr ganz sicher, ob das richtig war. Aber es gibt Leute, die sagen, wir leben in einer Zeit, in der man nicht mehr puristisch sein kann. Wenigstens ein kleines bisschen an Erklärung und Einordnung müsse man den Zuschauern an die Hand geben. Im ersten Entwurf des Drehbuchs stand vor dem Abspann nur ein einziger Satz: „Zement ist nach Wasser das am meisten verbrauchte Material“. Dann wollte ich doch noch mehr Informationen geben, weil die Leute das Ausmaß des Problems nicht kennen. Ein bisschen bedaure ich das. Aber inzwischen stecke ich wieder in diesem Dilemma. Gerade habe ich die Dreharbeiten zu meinem neuen Film abgeschlossen und ich weiß nicht, ob ich noch einen Satz ans Ende stellen soll oder nicht.
Worum dreht sich Ihr neuer Film?
Das lässt sich nicht in einer kurzen Zusammenfassung abhandeln. Sie werden es sehen, wenn Sie sich den Film anschauen.
Zur Person
Victor Kossakovsky wurde 1961 in St. Petersburg geboren. 1978 begann er seine Filmkarriere als Kamera-, Regie- und Schnittassistent bei Lennautschfilm, einem der drei größten Filmstudios Leningrads. Zwischen 1986 und 1988 studierte er Drehbuch und Regie im berühmten Gerassimow Institut für Kinematografie in Moskau. Mit seinem ersten Dokumentarfilm „Losev“ (1989) gewann Kossakovsky den Silbernen Kentaur für den Besten Debütfilm sowie den Kritikerpreis auf dem Internationalen Filmfestival von St. Petersburg. 1992 folgte der Dokumentarfilm „Belovy“, der mit zwei großen Preisen beim Internationales Dokumentarfilmfestival Amsterdam) und zahlreichen weiteren Auszeichnungen geehrt wurde. Kossakovskys nächster Film „Mittwoch 19.7.1961“ (1997) war ebenfalls erfolgreich in der internationalen Festivalszene. Seinen internationalen Durchbruch schaffte der Filmemacher mit „¡Vivan las Antipodas!“ (2011). Es folgten die ebenfalls gefeierten „Aquarela“ (2018) und „Gunda“ (2020).