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Interview mit Julia von Heinz zu „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“

Geschrieben von Peter Gutting am 7. September 2024

So ignorant können Filmhochschulen sein: Acht Mal wurde Julia von Heinz abgelehnt. Heute ist sie eine der international renommiertesten deutschen Regisseurinnen sowie Professorin für Kinoregie an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Ihr neuer Film „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ basiert auf dem autobiografischen Roman „Zu viele Männer“ von Lily Brett. Er untersucht die Auswirkungen des Holocaust auf die nachfolgende Generation. Erzählt wird von der New Yorkerin Ruth (Lena Dunham), die mit ihrem Vater Edek (Stephen Fry) im Jahr 1991 nach Polen fliegt. Dort will sie das Elternhaus von Edek besuchen, aber auch das Warschauer Ghetto und das Vernichtungslager Auschwitz. Das Problem ist nur: Der Holocaust-Überlebende Edek will eigentlich lieber sein Leben genießen, als alte Wunden aufzureißen. Deshalb hintertreibt er Ruths Pläne mit Charme, List und Tücke. Zum Start des Films, der auf der Berlinale 2024 im Februar Premiere hatte, sprachen wir mit Julia von Heinz über frühe Lektüre-Erfahrungen, die Nachwirkungen des Holocaust auf die zweite, dritte und vierte Generation, sowie über die Wichtigkeit, in der eigenen Familie über die dunkle Vergangenheit des Nazi-Regimes zu sprechen.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Lektüre von „Zu viele Männer“?

Das war kurz, nachdem das Buch hier in Deutschland erschien, Mitte der 1990er. Ich hatte damals noch keine Verbindung zur Filmwelt. Ich las es also ohne den Hintergedanken, es einmal selbst zu verfilmen. Ich las das Buch in meiner ersten Lily-Brett-Phase, die mit „Chuzpe“ und „Einfach so“ begann. Die Autorin bewegt sich immer im selben Kosmos. Die Tochterfigur und die Vaterfigur ziehen sich durch all ihre Bücher. Wenn man einmal anfängt sie zu lesen, hört man nicht mehr auf. So ging es mir und so geht es vielen anderen. „Zu viele Männer“ habe ich mir nach der ersten Lektüre ins Regal gestellt und alle paar Jahre mal wieder herausgezogen.

Was hat sie besonders fasziniert an „Zu viele Männer“?

Vor allem die Frauenfigur. Für mich war neu, wie Lily Brett in dieser Präzision, mit diesen Humor und in dieser Ehrlichkeit eine junge Frau mit Mental Health-Problemen beschreibt, in einem schonungslosen Blick auf sich selbst und ihren Körper. Als ich dann Filmemacherin wurde, merkte ich, dass sich die Geschichte von „Zu viele Männer“ filmisch gut erzählen lässt. Sie handelt von einer einwöchigen Reise, nicht nur einer äußeren, sondern auch einer inneren. Sie hat einen Anfang und ein Ende, die Figuren verlassen Polen verändert und werden nicht mehr dieselben sein.

Das Buch hat, je nach Ausgabe, zwischen 650 und 700 Seiten. Wie sind Sie mit dem Umfang umgegangen, als Sie mit ihrem Mann John Quester das Drehbuch schrieben?

Am Ende war es eine Vereinfachung und die Reduktion verschiedener Subplots und Figuren. Relativ früh fiel das Element weg, in dem Rudolf Höß, der Lagerkommandant von Auschwitz, Ruth als Geist im Hotelzimmer erscheint, wo sie lange Zwiegespräche mit ihm führt. Das war filmisch schwierig, weil es mit einem Geist ein anderes Genre wird. Wir haben uns auf die Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter konzentriert.

Gab es auch Dinge, die Sie bewusst nicht mit hineinnahmen?

Man spürt im Buch Lily Bretts Wut, ihre Trauer und Enttäuschung, mit der sie nach Polen gefahren ist. Heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen, empfindet die Autorin, mit der wir uns eng ausgetauscht haben, die Wut nicht mehr in dieser Weise. Es wäre falsch gewesen, nicht von der heutigen Lily Brett auszugehen.

Bei Ruth geht es um die zweite Generation, die den Holocaust nicht direkt erlebt hat, sondern die indirekt unter ihm leidet, vermittelt über die Beziehung zu den Eltern. Warum ist es Ihnen so wichtig, dass sich die zweite, die dritte und womöglich auch die vierte Generation danach noch mit dem Holocaust auseinander setzen?

Mein Film über die dritte Generation heißt „Hannas Reise“ und enthält ganz ähnliche Erzählelemente wie „Treasure …“. Da geht es auch um die Enteignung einer Wohnung und um persönliche Dinge, mit denen die Mutter der Hauptfigur aufgewachsen ist. Die dritte Generation ist meine eigene und ich habe selbst gespürt, dass ich noch sehr stark davon geprägt bin, was meine Großeltern erlebt haben. Wir wissen seit etwa zehn Jahren, dass es ein transgenerationelles Trauma gibt. Lily Brett hat das schon beschrieben, bevor es diesen Begriff und die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber gab. Meine Mutter zum Beispiel hat sich stark mit Lily Brett identifiziert. Sie ist im selben Jahr geboren und hatte einen „halb-jüdischen“ Vater, wie man das damals nannte. Ihr Vater entkam nur knapp dem Lager und war durch die Nazi-Zeit stark traumatisiert. Ich denke, dass Erinnerungskultur nicht nur staatlich verordnet sein darf, was ich weiter richtig und wichtig finde. Hinzu muss aber eine private Erinnerungskultur kommen, bei der innerhalb der Familien miteinander über das Geschehene gesprochen wird.

Was aber eher selten geschieht.

Das gab es in meiner Familie kaum und das gibt es in den meisten anderen Familien nicht. 79 Prozent der dritten Generation glauben, ihre Großeltern hätten Juden geholfen oder seien selber Opfer gewesen oder gar im Widerstand. Das kann natürlich nicht sein, wenn man sich die Zahlen derer anschaut, die im Widerstand waren oder geholfen haben. „Treasure…“ und auch „Hannas Reise“ handeln von der privaten Erinnerungskultur: dass Generationen sich untereinander etwas erzählen müssen.

Haben Sie selber positive Effekte erfahren durch Ihre intensive Beschäftigung mit der Thematik?

Man muss verstehen, wo man herkommt, um zu verstehen, wer man ist. Wie man sich fühlt und wie man sich verhält, hat damit zu tun, was die Eltern und die Großeltern erlebt haben.

Ich habe neulich einen Zeitungsartikel gelesen, der sich dafür stark gemacht hat, dass man in den Nazi- und Wehrmachtsarchiven nachschaut, was die Großeltern in dieser Zeit getan haben. Es wurde argumentiert, dass diese Archive relativ leicht zugänglich seien. Teilen Sie diesen Appell, dort nachzusehen?

Ich finde es extrem wichtig zu wissen, inwiefern die eigene Familie verstrickt war oder auch nicht. Denn dadurch werden einfache Antworten plötzlich unmöglich. Ich habe das bei meinen eigenen Großeltern gesehen. Mein halb-jüdischer Opa war kurz bei der Wehrmacht und wollte dort auch bleiben. Das war zwar nicht möglich, er wurde dort rausgeschmissen. Aber er stellte dann einen Antrag auf Arisierung. Mein anderer Großvater war nicht jüdisch und besaß aber mit einem jüdischen Kompagnon eine Bank. Das jüdische Eigentum verwaltete er treuhänderisch und verhielt sich äußerst korrekt. Er rechnete pfenniggenau ab und schickte alles nach Kriegsende sofort nach Tel Aviv. Dafür bekam er Dankesbriefe, die in seine Entnazifizierungsakte Eingang fanden.

Beide Fälle entsprechen nicht dem, was man erwartet hätte.

Die einfachen Antworten, Opfer sind gut und Täter sind schlecht und die Guten sind immer Opfer, diese Urteile sind gar nicht mehr möglich, wenn man eine präzise Aktenlage hat. Dann merkt man, dass das alles Menschen sind – mit völlig unterschiedlichen Beweggründen. Mir wiederum hilft diese Erkenntnis, Antisemitismus schwachsinnig zu finden. Denn wir Menschen sind alle sehr ähnlich und gleich. Ich kann nur jedem raten, auf die Suche zu gehen, welche Entscheidungen die Großeltern trafen und welche Beweggründe sie hatten – im Guten wie im Schlechten.

Sie haben drei Filme zu einer Trilogie zusammengefasst und sprechen von einer „Aftermath-Trilogie“, also einer Trilogie der Nachwirkungen. Dazu gehört neben „Hannas Reise“ auch „Und morgen die ganze Welt“. Bestand von Anfang an die Idee einer Trilogie? Oder hat sich das in der Rückschau ergeben?

Ich habe im Nachhinein gemerkt, dass ich für alle drei Filme dieselben Artikel, Essays und Bücher lese sowie dieselben Filme schaue. „Und morgen die ganze Welt“ erzählt etwas über die vierte Generation in Deutschland, die eine ganz besondere Verantwortung spürt, nämlich einen neuen Faschismus zu verhindern. Nachdem ich „Treasure…“ gemacht hatte, spürte ich, dass diese drei Filme verwandt sind und zusammen gehören. Hinzu kommt, dass ich das Thema der Nachwirkungen nun vorerst abgeschlossen habe. Ich habe dazu gesagt, was ich zu sagen habe. Nun will ich mich neuen Themen widmen.

„Treasure…“ ist Ihre erste internationale Produktion. Was war anders?

Die Sichtbarkeit ist eine andere. Seit der Berlinale bin ich damit befasst, dass der Film, der in 58 Länder verkauft wurde, fast im Wochentakt in einem neuen Land startet: in den USA, Großbritannien, Australien, Israel, Niederlande. Das geht bis in den nächsten Januar. Weil ich auf Social Media gut zu finden bin, bekomme ich viele Reaktionen aus aller Welt auf den Film. Das ist neu und es ist das Beglückendste, was einem passieren kann.

Gab es auch Reaktionen, die von eigenen Erfahrungen erzählen?

Ja, das ganz besonders. Dadurch, dass dies der erste Film ist, der über die zweite Generation erzählt und diese Menschen sich zum ersten Mal wie selbst auf der Leinwand sehen, ist die Identifikation mit der Ruth-Figur besonders stark.

Eine komplett andere Frage: Sie sind Professorin für Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Stimmt es, dass Sie als junge Bewerberin acht Mal von Filmhochschulen abgelehnt wurden?

Ich habe mich in den Jahren 2001 bis 2004 mehrfach für Kamera und Regie beworben. Das hat nicht geklappt. Aber: Ich war später künstlerische Mitarbeiterin von Rosa von Praunheim an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Dadurch konnte ich trotzdem ein bisschen Filmhochschul-Atmosphäre schnuppern.

Sie haben neue Projekte angesprochen. Können Sie schon darüber reden, was Ihr nächster Film wird?

Ich weiß, dass ich nächstes Jahr drehe. Aber ich weiß noch nicht, welches von zwei Projekten ich als erstes realisieren werde. Bevor ich das nicht entschieden habe, schweige ich lieber über den nächsten Film.

 

Zur Person:

Julia von Heinz wurde 1976 in Berlin geboren. 2005 schloss sie an der Technischen Fachhochschule Berlin ihr Studium als Diplomkamerafrau ab. Im Anschluss war sie künstlerische Mitarbeiterin von Rosa von Praunheim an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam. 2007 legte sie mit „Was am Ende zählt“ ihr Spielfilmdebüt vor, das auf der Berlinale in der Reihe Perspektive Deutsches Kino Premiere feierte. Beim Deutschen Filmpreis gewann sie dafür Gold als „Bester Jugendfilm“. Nach „Hanni und Nanni 2“ (2011) realisierte Julia von Heinz das Drama „Hannas Reise (2014). Zwei Jahre zuvor hatte sie gemeinsam mit Tom Tykwer, Chris Kraus, Robert Thalheim und Axel Ranisch den Dokumentarfilm „Rosakinder“ gedreht. Im Jahr 2015 folgte ihr Publikumshit „Ich bin dann mal weg“. Zwei Jahre später folgte die erste große Fernseharbeit von Julia von Heinz: „Katharina Luther“ mit Karoline Schuch in der Hauptrolle. Ihr Politthriller „Und morgen die ganze Welt“ wurde 2020 in den Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig eingeladen.

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Interview mit Julia von Heinz zu „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“

Geschrieben von Peter Gutting

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Start: 01.01.1970