Ruth (Lena Dunham) ist New Yorkerin durch und durch: ein wenig neurotisch, ein wenig überdreht und ein wenig „bossy“. Ihre Brötchen verdient die 36-Jährige als Musikjournalistin, selbst die „Rolling Stones“ hat sie schon interviewt. Doch in letzter Zeit – man schreibt das Jahr 1991 – laufen die Dinge nicht mehr so gut. Ihre Mutter ist gestorben, von ihrem Mann hat sie sich scheiden lassen und ihre Neigung zum Selbsthass droht aus dem Ruder zu laufen. Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln und einer Erklärung dafür, was mit ihrem Leben nicht stimmt, reist Ruth nach Polen, in die ehemalige Heimat ihres Vaters Edek (Stephen Fry), der als Jude die Hölle des Holocausts durchlebt hat. Obwohl Edek eigentlich keinen Grund sieht, alte Wunden aufzureißen, kommt er seiner Tochter zuliebe mit. Wie bei jedem guten Roadmovie erzählt Regisseurin Julia von Heinz den äußeren Trip zugleich als Reise ins eigene Ich. Und mit einer guten Prise Humor.
Stapelweise beschweren Bücher Ruths Koffer. Kaum in Warschau angekommen, nimmt sie sich eine Studie über das sogenannte Dritte Reich vor. Darin: übelste Propaganda. Juden seien wie Läuse, liest die Tochter des Holocaust-Überlebenden. Man sei daher verpflichtet, sie auszurotten. Aber kann das Wissen aus Büchern vermitteln, was der eigene Vater erlebt hat? Sicherlich nicht. Es ist nur ein abstrakter Ersatz für das konkrete Erleben, über das sich der Vater allerdings beharrlich ausschweigt. Edek erscheint in vielem als das glatte Gegenteil von Ruth. Er will sein Leben genießen, kennt keine Tabus und geht auch keiner Peinlichkeit aus dem Weg. Unwillkürlich muss man an das ungleiche Vater-Tochter-Paar aus Maren Ades „Toni Erdmann“ (2016) denken, zumal auch Edek von Maske und Kostümabteilung wie ein Edel-Penner ausstaffiert wurde. Die endlosen Reibereien zwischen Vater und Tochter sind gut für die Leichtigkeit und den Unterhaltungswert der thematisch schweren Dramödie. Aber die Anklänge an den Sensationserfolg von Maren Ade haben auch ihre Tücken. Sie legen die Latte ziemlich hoch.
Julia von Heinz gehörte zu den ersten Filmemacher*innen, die den Auswirkungen des Holocaust auf die dritte Generation nachspürten, etwa in „Hannas Reise“ (2013) oder in „Und morgen die ganze Welt“ (2020). Dass sie sich nun auch mit der ersten und zweiten Generation beschäftigt, ist nicht nur folgerichtig, sondern auch verdienstvoll, gerade in Zeiten, in denen der Antisemitismus wieder um sich greift. In ihrer Verfilmung des autobiografischen Buches „Zu viele Männer“ von Lily Brett folgt sie deren empathischer, psychologisch differenzierter Analyse. Man versteht hier sowohl den Vater, der alles hinter sich lassen und seine Tochter nicht mit dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte behelligen möchte. Aber man kann den Drang der Tochter mindestens genauso gut nachvollziehen, endlich den Schleier des Verschweigens von einem Leid zu reißen, das immer da war und enorme Auswirkungen auf das eigene Leben hatte. Es geht hier – anders als oft in Holocaust-Filmen – nicht um Anklage, Moral und Schuld. Es geht um die Kosten von Verdrängung.
Als ihr „internationales Debüt“ hat die Regisseurin den Film bezeichnet, dessen Drehbuch sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Autoren und Produzenten John Quester, schrieb. Damit spielt sie bewusst auf die Analogie zu einem echten Erstling an. Alles ist neu, alles ist herausfordernd und vieles geschieht zum ersten Mal. Die Produktion hatte gegen einige Widerstände zu kämpfen, unter anderem gegen den überraschenden Wegfall polnischer Fördergelder und gegen Corona, das 2023 eigentlich schon ausgestanden schien, aber trotzdem den Dreh gefährdete. Und weil die politische Lage nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 den Film besonders dringlich werden ließ, beeilten sich die Filmemacher, den Schnitt früher als geplant zu vollenden, sodass „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ gerade noch rechtzeitig zur Berlinale 2024 fertig wurde und in der Sektion „Special Gala“ laufen konnte.
Nicht nur wegen all der äußeren Schwierigkeiten wandelt die Dramödie auf einem schmalen Grat. Es ist von Natur aus heikel, das Allerschwerste mit Leichtigkeit zu erzählen, selbst wenn der Wunsch danach nachvollziehbar und unbedingt berechtigt ist. Der Regisseurin war das in „Hannas Reise“ deutlich besser gelungen, nämlich frecher, unbekümmerter und dadurch glaubwürdiger. Zwar hat Julia von Heinz‘ neuer Film seine unbestreitbaren Qualitäten, vor allem im sensiblen Aufspüren von Erlebnissen, die die Mauer des Vergessenwollens erst ganz sanft erschüttern, dann langsam bröckeln lassen und schließlich zum Einsturz bringen. Doch dem Film ist auch die Last anzusehen, eine teure Produktion an ein möglichst großes Publikum zu bringen. Und die Fans der Buchvorlage nicht zu enttäuschen.
„Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ erzählt von einem ungleichen Vater-Tochter-Gespann, das sich 1991 auf die Suche nach den familiären Wurzeln macht – und den Nachwirkungen des Holocausts auf die zweite Generation. Regisseurin Julia von Heinz erzählt das mit viel Leichtigkeit, wandelt aber auf einem schmalen Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Klischee.