Der Ruhm kam spät für die österreichische Malerin, Grafikerin und Trickfilmerin Maria Lassnig (Birgit Minichmayr). Bis zur Annahme einer Professur an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst im Jahr 1980 hatte sie von ihren Arbeiten nicht leben können. Da stand sie mit 61 bereits kurz vor dem Rentenalter. Zuvor wurden ihr Männer vorgezogen, wie etwa ihr Lebensgefährte Arnulf Rainer (Oskar Haag). Oder man fand ihren „Body-Awareness“-Stil, also den künstlerischen Ausdruck von Körperempfindungen, morbide und seltsam, wie es ihr in New York geschah. Maria Lassnig malte, weil sie ihr Leben anders nicht aushielt, das von einer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter Mathilde (Johanna Orsini) geprägt war. Wie die im hohen Alter weltberühmte Künstlerin ihr Innenleben in Farben und Formen übersetzte, erkundet die österreichische Filmemacherin Anja Salomonowitz nicht in einem klassischen Biopic. Sondern in einer experimentell angehauchten, dokumentarisch durchsetzten Collage, die die Vieldeutigkeit von Lassnigs feministischer Kunst bewahrt.
„Ist der Schmerz außen oder innen“, fragt Maria das kleine Nachbarsmädchen, das ihr ein Handtuch bringt und bei dessen Mutter sie badet, weil sie sich selbst kein warmes Wasser leisten kann. Die Künstlerin gibt sich selbst die Antwort und verschreckt das Kind mit ihren Überlegungen. Der Schmerz sei innen, befindet sie. Aber selbst wenn man den Körper aufschneiden würde, könnte man die Empfindung trotzdem nicht sehen. Wie also das Innere sichtbar machen? Darum kreist Marias Schaffen, seit sie nach expressionistischen, informalistischen und surrealen Anfängen zur „Körperbewusstseinsmalerei“ fand: großformatige (Selbst)Porträts und Akte, die ein physisches Empfinden spiegeln. Die Kategorien Innen und Außen sind dabei zentral, aber nicht als Entweder-Oder, sondern als ineinanderfließendes Kontinuum ohne feste Grenze.
Wem das zu abstrakt klingt, muss ihre Bilder betrachten: die offenen Münder, starr vor Erschrecken; oder die verbundenen Augen, gewaltsam am Sehen gehindert; oder den titelgebenden Tiger, der mit einer nackten Frau schläft, von der man nicht weiß, ob sie Schmerz oder Lust oder beides empfindet. Wie aber kann ein Film jenseits der Werke sichtbar machen, was die Künstlerin bewegte, deren Zeichentalent früh entdeckt und gefördert wurde? Man könnte das Publikum illusionistisch eintauchen lassen in den Werdegang, die familiären Verhältnisse, die Erfolge und Enttäuschungen eines langen und außergewöhnlichen Lebens mit Stationen in Kärnten, Wien, Paris, New York und wieder zurück in Österreich. Aber dann hieße man nicht Anja Salomonowitz („Dieser Film ist ein Geschenk“, 2019), die sich als Regisseurin mit Hybridfilmen zwischen Fiktion und Dokumentation einen Namen gemacht hat und zu Beginn ihrer Karriere Assistentin von Ulrich Seidl war.
Die Wiener Regisseurin arbeitet mit einer ganzen Reihe von Verfremdungseffekten, um das Publikum zum Selbstdenken zu animieren. So liegt plötzlich nicht mehr eine Kinderdarstellerin im Bettchen, um die schwerkranke Sechsjährige zu spielen, für die man schon den Priester geholt hat. Sondern Birgit Minichmayr, die von nun an sämtliche Altersphasen von sechs bis 94 verkörpern wird, getreu dem Motto, dass die Seele im Gegensatz zum Körper nicht altert. Die Schauspielerin wird auch zuweilen direkt in die Kamera sprechen, so wie andere Darsteller, die aus ihrer Rolle fallen. Zudem wird Marias Lebensgeschichte nicht chronologisch erzählt, sondern in assoziativ aneinander gereihten Versatzstücken. Der Film gleicht dadurch eher einem Puzzle, dessen Teile jede und jeder wohl ein wenig anders zusammensetzen wird.
Trotzdem bleiben in dem Flickenteppich sowohl die Grundstrukturen der Biografie wie auch die wichtigsten Anliegen der Regisseurin erhalten. So zeigt Anja Salomonowitz die Künstlerin immer wieder in außergewöhnlichen Körperpositionen: fast liegend auf einem Gartenstuhl, oder vorgebeugt sitzend und die Schultern hochziehend, wie eine Erforscherin ihres Selbst, die nach innen hört, wie sich verschiedene Stellungen anfühlen. Oft sieht man sie im Liegen malen, die Leinwand auf den harten Boden gelegt und sie selbst daneben oder darauf, meist in umständlichen Verrenkungen. In langen, unbewegten Sequenzen befördert der Film ähnliche mentale Introspektionsprozesse, wie sie Maria Lassnig bei ihrer Arbeit anstrebte.
Es dauert eine Weile, bis man sich an die eigenwillige filmische Collage gewöhnt hat. Aber gerade innerhalb des abstrakten, mehr an den Verstand als an Emotionen gerichteten Habitus des Films leuchten gefühlsstarke Momente umso heller. Etwa wenn der tierlieben Künstlerin, die keiner Spinne etwas zu Leide tut, in einer surrealen Sequenz eine Armada von Ameisen zu Hilfe kommt, um ein Bild nach Hause zu transportieren, nachdem sie der Lebensgefährte schnöde damit allein gelassen hat. Oder wenn man gegen Ende erfährt, was die Mutter sonst noch gesagt hat in der mehrfach wiederholten und variierten Szene, in der sie die Tochter lobt, weil sie einen Nachbarsjungen so schön gezeichnet habe. Zwar muss sich das Publikum die Freuden und Schmerzen, die in den beiden Sequenzen liegen, selbst ausmalen, ohne Geigen und andere Gefühlsverstärker. Aber dadurch wird der Film einer Künstlerin umso gerechter, die den Betrachtern ihrer Bilder dasselbe abverlangte.
„Mit einem Tiger schlafen“ setzt Leben und Schaffen der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig wie eine Collage aus einzelnen Schnipseln zusammen. Regisseurin Anja Salomonowitz verbeugt sich mit einer eigenwilligen Filmsprache vor einer Frau, die ebenfalls keine Kompromisse einging.