Gibt es eine Verjährungsfrist für Seitensprünge? Vor 40 Jahren hat Annie (Sabine Azéma) ihren Ehemann François (André Dussollier) mit Boris (Thierry Lhermitte) betrogen, einem gemeinsamen Jugendfreund des langjährigen Ehepaares. Der gehörnte Gatte entdeckt die Missetat aber erst jetzt, nach Jahrzehnten glücklichen Zusammenlebens, als ihm beim Aufräumen des Dachbodens Boris‘ frivole Briefe an Annie in die Hände fallen. Als pensionierter General mit unumstößlichen Prinzipien – „Lüge bleibt Lüge“ – ruft François das häusliche Kriegsrecht aus. Er bläst zur Attacke und will nach Nizza fahren, um den längst vergessenen Nebenbuhler eigenhändig zu verprügeln. Das führt zu vergnüglichen Verwicklungen in der charmanten, auf liebevolle Weise altmodischen Charakterkomödie von Ivan Calbérac.
Der Mann sieht aus, als hätte er einen Schlagstock verschluckt. François wirkt derart steif und antiquiert, dass sich seine Kinder an einen Nazi erinnert fühlen, obwohl doch General de Gaulle sein großes Vorbild ist. Aber seit den 1950er Jahren scheint sich die Welt für den eingefleischten Militaristen nicht mehr weitergedreht zu haben. Sein Vokabular strotzt vor Kriegsrhetorik, er reitet jeglichen Moralkodex zu Tode und verlangt die Härte, mit der er jegliches Leben in sich erstickt, mit verblüffender Selbstverständlichkeit auch von allen anderen. Kurzum, er ist ein verbohrter Charakter, wie ihn die französische Komödie seit Molière liebt. Und wie ihn Regisseur Ivan Calbérac so ähnlich auch in „Frühstück bei Monsieur Henri (2015) erschaffen hat. Nur dass er das komödiantische Menü nun auch mit einer Prise Boulevard und einem guten Schuss Slapstick würzt.
Angerichtet wird also in erster Linie eine wunderbar leichte Sommerspeise, um nicht zu sagen: eine Art Salade Nicoise. Das südliche Flair, die warmen Farben, das lockende Meer – alles verströmt Urlaubgefühle, und damit genau das Gegenteil von François‘ martialischem Rachefeldzug. Kein Wunder, dass sich der Herr vom knallharten alten Schlage erweichen lassen wird, zumal wenn er von André Dussollier gespielt wird, dem eleganten Charmeur klassischer französischer Schule. Eine leicht zu erahnende Botschaft wird es also auch geben, aber die schafft es nur zu einem zusätzlichen Appetithäppchen, das die Hauptmahlzeit nicht beschwert. Der Rest ist Amüsement pur.
Allerdings hat der Regisseur einen weiteren Leckerbissen eingebaut, den die Liebhaber des französischen Kinos und vor allem vom Autorenfilmer Alain Resnais schätzen dürften: Sabine Azéma und André Dussollier stehen erstmals seit 2014 wieder gemeinsam vor der Kamera. Schon rund zehnmal seien sie ein Leinwandpaar gewesen, erzählt Dussollier im Interview. Ihre Glanzzeit war die unter der Regie von Resnais, dessen Lieblingsschauspieler sie wurden – und Sabine Azéma sogar dessen Ehefrau. Man denke etwa an Klassiker wie „Das Leben ist ein Roman“ (1983), „Mélo“ (1986) oder „Das Leben ist ein Chanson“ (1997). Durch seinen Besetzungscoup lässt Ivan Calbérac den Charme dieser Filme quasi mitschwingen, ohne die Publikumswirksamkeit seiner Wohlfühlkomödie aus den Augen zu verlieren.
Aber auch die Besetzung der erwachsenen Kinder von Annie und François bringt zusätzliche Geschmacksnoten ins Sommergericht. Besonders Joséphine de Meaux als heimlich lesbisch lebende Tochter Capucine kann brennen wie feuriger Pfeffer, wenn es um die Rettung der bedrohten Ehe der Eltern geht. Und sie hat auch einen der komischsten Momente im Film – ein Coming Out der höchst unfreiwilligen Art. Die Schauspielerin verleiht ihrer Figur eine entzückende Widersprüchlichkeit und setzt damit einen sehenswerten Gegenpol zu den unübersehbaren Anleihen bei den „Monsieur Claude“-Filmen, wo die Söhne- und Töchterfiguren doch eher stereotyp gezeichnet werden.
„Liebesbriefe aus Nizza“ erzählt von Eifersucht und Altersstarrsinn, aber auch von einer lebenslangen Liebe, die durch unerwartete Konkurrenz einen dritten Frühling erlebt. Regisseur Ivan Calbérac setzt auf sommerliche Leichtigkeit und die Rezepte der Wohlfühlkomödie, würzt das Ganze aber auch mit eigenen Geschmacksnoten.