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Gagarin – Einmal schwerelos und zurück

Geschrieben von Peter Gutting am 8. Juli 2024

Er war tatsächlich da: Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, weihte 1963 die „Cité Gagarine“ ein, den nach ihm benannten Wohnkomplex mit über 370 Apartments in Ivry-sur-Seine, einer Vorstadt südöstlich von Paris. Hochfliegende Träume paarten sich da mit Bodenhaftung, ganz so wie in dem Spielfilm selbst, der die dokumentarischen Aufnahmen von Gagarins Besuch an seinen Anfang stellt. Das französische Regiepaar Fanny Liatard und Jérémy Trouilh verwebt in seinem Langfilmdebüt soziale Wirklichkeit mit Utopie. Es huldigt einem magischen Realismus, der den bevorstehenden Abriss der Hochhaussiedlung in eine Feier des gelebten Lebens verwandelt, das sich hier 56 Jahre lang abspielte. Die bunte Vielfalt der Bewohner schreibt sich dabei nicht nur in den Beton ein, sondern kreiert die Geschichte einer Nachbarschaft im emphatischen Sinn. Sie handelt von Träumen und Hoffnungen, von Zärtlichkeit und Solidarität, mit der man hier Feste feierte, Kämpfe durchstand und seine Kinder großzog.

Youri (Alseni Bathily) heißt nicht zufällig so wie sein großes Vorbild, der sowjetische Kosmonaut. Die aus Afrika stammenden Eltern haben dem 16-Jährigen seinen Namen in Verbeugung vor dem Weltraumfahrer gegeben, und auch aus Dankbarkeit über die Chance, hier leben zu dürfen, in einem ehrgeizigen Wohnprojekt für die sozial Schwächeren, das die französischen Eurokommunisten durchboxten, als sie in den 1960ern die Rathäuser im „roten Ring“ um Paris eroberten. Doch die Ehe der Eltern ist längst gescheitert, wie auch die Utopie, die sich mit sozial gerechtem Wohnungsbau verband. Die „Cité Gagarine“ soll abgerissen werden. Und Youri ist einer der wenigen, die sich noch dagegen stemmen. Zusammen mit seinem Freund Houssam (Jamil McCraven) und dem Roma-Mädchen Diana (Lyna Khoudri) übernimmt er ehrenamtliche Hausmeisterarbeiten. „Wenn alles funktioniert, können sie es nicht abreißen“, lautet die ebenso kindlich-naive wie kämpferische Hoffnung des körperlich starken und zugleich schutzbedürftigen Teenagers.

Ist das real? Muss man sich die jungen Leute in den Vorstädten nicht ganz anders vorstellen? Nicht unbedingt, sagen die Filmemacher. Sie haben sich lange in der „Cité Gagarine“ umgeschaut. 2014 drehten sie dort schon den Kurzfilm „Gagarine“, sprachen auch für die lange Fassung mit vielen Leuten und boten mehrere Video-Kurse an, unter anderem für Zwölf- bis 25-Jährige. Aus den Gesprächen mit ihnen formten sie die Figur Youri. Und aus den Erzählungen der älteren Erwachsenen rekonstruierten sie die Bedeutung der Wohnsiedlung für die Mieter. „Ich sehe Gagarine nicht als Gebäude, sondern als Person mit einem eigenen Leben und einer eigenen Geschichte“, sagt einer im Abspann. Viel schöner lässt sich der immaterielle Mehrwert über das reine Dach über dem Kopf hinaus wohl nicht formulieren, auch nicht mit Begriffen wie Heimat oder Erinnerungen an die Kindheit. Imaginärer Überschuss und Verankerung im Handfest-Konkreten – diese Doppelung trägt den Film. Gedreht wurde im Jahr 2019 kurz vor dem tatsächlichen Abriss, als der Komplex bereits geräumt war.

Dass „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ trotzdem nicht ins klassische Sozialdrama abdriftet, sondern dahinschwebt wie eine Raumkapsel, ist nicht nur das Verdienst des ausbalancierten Drehbuchs, sondern auch der Kamera von Victor Seguin, die Youri und seine Freunde zärtlich umkreist und immer wieder auch selbst auf Erkundungsreise geht. Schon zu Beginn tanzen die Bilder, wenn der Teenager mit seinem Fernrohr die kleinen und großen Abenteurer der Banlieue ganz nah heranholt. Später poetisieren sie die Plattenbaufassade aus ungewöhnlichen Winkeln, tauchen den Betonkoloss in romantisches Licht und lassen den ganzen Komplex zuweilen selbst wie eine Raumstation durchs All gleiten. Dass Youri irgendwann als letzter Bewohner sein Stockwerk tatsächlich in eine Raumstation umbaut, erscheint beinahe als logische Konsequenz. Wenn es auf Erden keinen Platz mehr gibt für die Utopie solidarischen Wohnens, so muss sie eben abheben in höhere Sphären.

Um den Film genremäßig einzuordnen, könnte man ihn als Mischung aus Sozialdrama, Coming-of-Age und Gentrifizierungskonflikt charakterisieren. Aber damit wäre wenig gewonnen. Denn das Debüt von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh ist ein Fixstern, der sich nicht in die gängigen Genre-Karten einzeichnen lässt. Er formt sich aus dem Urknall dokumentarisch genauer Recherche und hebt ab in eine Umlaufbahn des Imaginären, in der das Fiktionale mit dem Realen, das Vergangene mit dem Zukünftigen und das Geträumte mit dem gelebten Leben fusionieren.

„Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ erzählt von einem Jugendlichen, der gegen den Abriss seiner Wohnsiedlungen in der Pariser Vorstadt kämpft. Die französischen Filmemacher Fanny Liatard und Jérémy Trouilh machen aus dem Stoff kein klassisches Sozialdrama, sondern einen wunderbar fantasievolles Kunstwerk.

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Copyright: FilmKinoText Filmverleih

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Länge: 98min

Kategorie: Drama, Sozialdrama, Coming-of-Age

Start: 15.08.2024

cinetastic.de Filmwertung: (9,0/10)

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Gagarin – Einmal schwerelos und zurück

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 98min
Kategorie: Drama, Sozialdrama, Coming-of-Age
Start: 15.08.2024

Bewertung Film: (9,0/10)

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