An Lars‘ (Jona Levin Nicolai) Schule passieren schreckliche Dinge. Ein Mädchen ist ermordet worden und Lars stürzt aus dem Fenster. Zwar erleidet der Junge nur eine leichte Gehirnerschütterung, doch der angebliche Unfall kommt für Lars‘ Mutter Nina (Maren Eggert) zur denkbar ungünstigsten Zeit. Die renommierte Dirigentin soll in zehn Tagen Gustav Mahlers fünfte Sinfonie aufführen. Die Proben laufen auf Hochtouren, ein erfolgreiches Konzert könnte die Karriere der alleinerziehenden Künstlerin auf ein neues Level heben. Nina ist hin und hergerissen zwischen der Arbeit und der Sorge um ihr pubertierendes Kind, das unter der Trennung der Eltern leidet und den abwesenden Vater Alex (Mehdi Nebbou) vermisst. Spontan brechen Mutter und Sohn zu einem Wochenendtrip auf einer bretonischen Insel auf, wo die Familie ein Ferienhaus besitzt. Doch der Tapetenwechsel verschärft die Spannungen noch mehr im thrillerhaften Mutter-Sohn-Drama der slowenisch-deutschen Regisseurin Hanna Slak.
Früh am Morgen: Eine Drohne fliegt durch die steril möblierte Wohnung von Nina und Lars. Die Mutter sitzt mit Kopfhörern am Klavier. Der Sohn, ebenfalls mit Steckern im Ohr, steuert das Fluggerät per Handy aus seinem Zimmer. Anders kann er die Aufmerksamkeit der vielbeschäftigten Dirigentin wohl kaum erreichen. Nina, versunken in ihre Partitur, schaut genervt auf, reagiert dann aber mit einer eher freundlichen Ermahnung: „Lars, hast du gefrühstückt“? In diesem Moment stürzt die Drohne ab.
War die Kommunikation schon zuvor höchst gestört, bricht sie nun komplett zusammen. Damit ist der Ton für die Inszenierungskunst des ruhig erzählten, bei aller inneren Dramatik zuspitzungslosen Films gesetzt. Die Drohne wird nicht die einzige unaufdringliche Metapher bleiben, die mehrere Deutungen zulässt und auch ganz banal als Zeichen für die Technikaffinität der heutigen Jugend verstanden werden kann. Mehrdimensionalität ist elementar notwendig in einem Kammerspiel unter freiem Himmel (zumindest später auf der Insel), das vom Unausgesprochenen lebt. Und vom Thrill, der sich aus einem fürchterlichen Verdacht speist: Hatte Lars etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun?
Man mag staunen über die Häufung von Filmen mit und über Dirigentinnen seit „Tár“ von Todd Fields (2022), wo es übrigens auch um Mahlers Fünfte ging. Im Fall von „Kein Wort“ hätte es für Nina allerdings auch ein anderer Beruf sein können. Denn in dem autobiografisch inspirierten Drama von Hanna Slak („The Miner“, 2017) geht es ganz universell um das Spannungsverhältnis von Karriere und Familie, nicht nur bei Alleinerziehenden. Außerdem geht es um Gewalt und die Folgen, die sie selbst bei denen hinterlässt, die nicht unmittelbar davon betroffen sind. Etwa bei Schulkindern, denen Tag für Tag üble Nachrichten an einem nahe gelegenen Kiosk entgegenprangen. Was macht es mit denen, die stehen bleiben und von Mord und Totschlag lesen? Die reale Beobachtung und die daraus folgende Frage seien der Ausgangspunkt für den Film gewesen, sagt die Regisseurin in einem Interview.
Ein weiterer Hintergrund ist die spezielle Lesart der Autorenfilmerin von Mahlers Fünfter. In ihren Ohren geht es dabei um Tod, Verlust, Trauer und Erlösung. Die komplette Filmmusik ist daher von dieser Sinfonie inspiriert, jeder der fünf Sätze taucht auch kurz in orchestraler Version auf. Die Musik wird dabei zu einem weiteren Akteur, etwa bei einer Auseinandersetzung zwischen Nina und Lars an Deck der Fähre auf der Überfahrt zur Insel. Welcher Aufruhr da in beiden brodelt, kann man nur bedingt an ihren Augen ablesen. Das volle Ausmaß der emotionalen Wucht ergibt sich erst durch die Kombination mit dem stürmischen Wind und dem Fortissimo von Bläsern und Pauken, das leicht ins Dissonante kippt.
Womit wir bei der Natur als zusätzlichem Mitspieler wären. Mit aufwühlender Dramatik setzt Kamerafrau Claire Mathon („Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma, 2019) die winterliche Insel ins Bild: die halsbrecherischen Klippen, die schnell ziehenden Wolken, das bedrohlich heranrückende Gewitter. Hier gibt es keine Kontrolle über die Natur wie in der Großstadt, schon gar nicht im Januar. Hier herrschen die Gezeiten, das Wetter, die tosende Gischt. Den Menschen bleibt nur, sich deren Rhythmen anzupassen – eigentlich gute Bedingungen für Nina und Lars, die Gräben zwischen sich zuzuschütten. Doch dafür müssen sie erst einmal durch den Schlamm, der sich dort angesammelt hat. Dass das bis zum Schluss spannend bleibt, dafür sorgen die Klaviatur des Thrills, die schon Hanna Slaks Vorgänger „The Miner“ auszeichnete, und das vielschichtige Spiel von Maren Eggert. Sie leiht ihrer Figur Nina den nachvollziehbaren Stress einer Alleinerziehenden, aber auch eine bewundernswerte Zähigkeit im Kampf um ihren Sohn. Und, vielleicht am schönsten: die erahnbare Überzeugung, dass Kind und Karriere keine Gegensätze sein müssen, sondern einander wechselseitig befruchten.
„Kein Wort“ handelt titelgemäß von einer Kommunikationsstörung zwischen Eltern und pubertierenden Kindern, die wohl vielen bekannt vorkommen dürfte. Regisseurin Hanna Slak zieht in ihrem vierten Langfilm die richtigen audiovisuellen Register, um das Vertraute in ein nervenkitzelndes Abenteuer zu verwandeln.