Die Zahl klingt erstaunlich: Mehr als 300 Bach-Chöre gibt es auf der ganzen Welt. Die meisten davon sind keine Profi-Musiker, sondern Laien. Sie singen und musizieren, weil sie in dem Barock-Komponisten etwas Heutiges finden. Einen Trost vielleicht, oder eine Freude oder sogar etwas Lebensveränderndes. Auch Filmemacherin Anna Schmidt wusste nichts von der außergewöhnlichen Bach-Begeisterung rund um den Globus, obwohl sie selbst Musikerin ist. Aber als sie davon hörte, war sie neugierig und nahm Kontakt zu rund 50 Chören auf. Nach und nach schälten sich aus Vorgesprächen acht Protagonistinnen und Protagonisten heraus. Zu ihnen führt eine musikalische Weltreise nach Paraguay, Pennsylvania, Australien, Malaysia, Südafrika und ins schweizerische Bern. Überall ist die Filmemacherin auf der überraschenden, staunenswerten und bewegenden Suche nach Menschen, die Bach nicht nur spielen und hören, sondern in seiner Musik aufblühen.
Am Anfang steht das „Air“ aus der 3. Orchestersuite, die wohl bekannteste Melodie des Meisterkomponisten. Jeder hat wohl schon einmal diese leicht melancholischen, ätherischen Klänge gehört. Das „Air“ schwebt geradezu über der Eröffnungsmontage, die die Protagonistinnen und Protagonisten vorstellt. Es setzt sich später fort auf der Gitarre des paraguayischen Sängers David Portillo, der es seinen beiden kleinen Söhnen nahebringt. Und es wird abgelöst von anderen Ohrwurmmelodien, etwa dem Menuett G-Dur, das am Ufer der Aare auf dem Cello der Berner Lehrerin Désirée Scheidegger erklingt. Die Auswahl der Stücke zeigt: Dies ist kein Film für Musikwissenschaftler und Bach-Spezialisten, auch nicht nur einer für Klassikbegeisterte. Sondern er wendet sich an alle Menschen, die sich etwas Ähnliches erhoffen wie die Interviewten: Seelenruhe, innerste Erfüllung und das Mitschwingen von etwas Transzendentem. Die Musik seiner Heimat, sagt der Paraguayer David Portillo, verbinde ihn mit seinen Wurzeln, aber Bach verbinde ihn mit einer höheren, universellen Dimension.
Auf der nicht ganz einfachen Reise während des Pandemie-Jahrs 2020 trifft Dokumentaristin Anna Schmidt („Die geniale Schwester. Fanny Hensel, geb. Mendelssohn“, 2022) auf viele staunenswerte Geschichten. Etwa, wenn die australische Lehrerin Bianca Porcheddu zu einer Aborigines-Gemeinde fährt und die Eingeborenen besucht, denen vor 140 Jahren die Missionare Bachs Musik beibrachten, die noch heute einen wichtigen Teil ihres Lebens ausmacht. Oder wenn die Malaysierin Lee Hai Lin mit einem Freund ein Cembalo in monatelanger Arbeit zusammenbaut, das sie in Paris als Bausatz bestellt haben, weil es in ihrer Heimat kein einziges solches Instrument gibt. Oder wenn der aus einem Township stammende Südafrikaner Thabang Modise erzählt, wie die Begegnung mit Bach seine politische Einstellung veränderte. Früher habe er geglaubt, dass es zwischen Schwarzen und Weißen immer eine unüberwindliche Barriere geben werde. Die vielstimmige Musik des deutschen Komponisten belehrte ihn eines Besseren. So wie Bachsänger trotz all ihrer Verschiedenheit ein Ganzes formen, so hält er diese Harmonie der Stimmen nun auch im ehemaligen Apartheit-Staat für möglich.
Auf Harmonie legt der Film auch in seinen Bildern wert. Imposante Flugaufnahmen wechseln mit klar strukturierten Alltagsituationen, die das Charakteristische und zugleich die Schönheit eines Ortes einfangen. Immer wieder sucht der Film die Nähe zur Natur. Chöre platzieren sich anmutig in der Landschaft. Streicher spielen im Park oder an einem malerischen See mit majestätischen Bergen im Hintergrund. Natürlich sieht man, dass diese Szenen gestellt sind. Aber das Mittel einer gewissen Künstlichkeit wird durch den Zweck mehr als gerechtfertigt: Den klar durchdachten, oft symmetrisch gebauten Kompositionen Bachs entspricht ein filmischer Wohlklang, so dass Musik und Kinematographie sich auf Augenhöhe begegnen.
Klug ist auch, sich nicht von vorherein auf den Höhepunkt zu fokussieren, auf den das Ganze letztendlich zuläuft: Zum Bachfest 2022 in Leipzig waren erstmals Laienchöre eingeladen, gemeinsam im „We are Family“-Chor aufzutreten. Erst nach einer Stunde Filmzeit wird das Ereignis kurz gestreift. Und dann dauert es noch eine weitere halbe Stunde bis zum großen Finale. So bleibt viel Zeit, um die jeweiligen lokalen Kulturen zu würdigen: ihre Volksmusik, Lebensart und Temperamente. Die entspannte Haltung des Films lässt zudem Raum, um die acht Menschen näher kennenzulernen, die ihre ganz persönliche Geschichte mit Bach erzählen. Bei aller Verschiedenheit ist ihnen eines gemeinsam: Für sie ist Bach keine Musik unter vielen, sondern eine, die sie tief im Inneren ergreift und aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken ist. Die sie berührt und zur Ruhe kommen lässt. Die dunkle und traurige Gefühle anspricht und doch ins Helle und zur Hoffnung führt. Oder wie es die amerikanische Sterbebegleiterin Jesse Gehman ausdrückt: „Bach ist meine Therapie“. Treffender kann man es nicht sagen.
Ein Leben ohne Bach ist möglich, aber sinnlos: So empfinden es die Menschen auf allen Kontinenten, die Dokumentarfilmerin Anna Schmidt getroffen hat. Ihr Film ist selbst wie ein Großteil der Bach-Musik: beruhigend, ätherisch schön und nicht ganz von dieser hektischen Welt.