Superlative pflastern ihren Weg. Die Dirigentin Joana Mallwitz wird in den Medien gern als neuer Star am Klassikhimmel gefeiert. Oft war sie auf den Stationen ihrer bisherigen Karriere die Jüngste am Pult (Jahrgang 1986) und meist die erste Frau. So wie bei ihrer neuen Stelle, auf die Dokumentarfilmer Günter Atteln sein Porträt hin orchestriert. Seit der Spielzeit 2023/2024 ist Joana Mallwitz die erste weibliche Chefin des Berliner Konzerthausorchesters, eines der sieben großen Häuser im vielgestaltigen Klassikbetrieb der Hauptstadt. Aber dem Filmemacher, der sich auf Dokus über Kunst und Musik spezialisiert hat, geht es weniger um hochtrabende Attribute. Er will ergründen, was den Kern von Mallwitz‘ Leidenschaft für Opern- und orchestrale Musik ausmacht. Damit liegt er ganz auf der Wellenlänge der Porträtierten.
Man kann es kaum vermeiden, beim Sehen von „Joana Mallwitz – Momentum“ an den Spielfilm „Tár“ (2022) von Todd Field zu denken. Der Vergleich ist in der Tat fruchtbar, gerade auch im Gegensätzlichen. Und das nicht nur, weil Joana Mallwitz der „Tár“–Hauptdarstellerin Cate Blanchett von der Physiognomie her ein wenig ähnelt. Wie der Spielfilm beleuchtet auch die Dokumentation von Günter Atteln („Die Thomaner“, 2012, zusammen mit Paul Smaczny) den enormen Stress auf der Spitze des Olymps, von dem jederzeit ein Absturz droht. Aber anders als die fiktive Lydia Tár verliert sich Joana Mallwitz nicht in Starkult oder autoritären Allüren. In dieser Hinsicht ist sie das glatte Gegenteil vom dem Bild, das man sich gern von den Männern und Frauen mit den Taktstöcken macht. „Am Ende setzt sich Echtheit immer durch“, sagt sie einmal über unterschiedliche Meinungen zwischen ihr und dem Orchester. Die Sache, also die Musik, ist alles, worauf es ihr ankommt. Dieses Credo zieht sich wie ein Mantra durch den Film. Und man ist sehr geneigt, es ihr abzunehmen, selbst wenn man unterstellen darf, dass sie ihr öffentliches Bild durchaus kontrollieren will – und vielleicht sogar muss.
Frühstück bei ihr zu Hause. Vor der Kaffeetasse liegt eine Partitur. Joana Mallwitz lässt die Hände über den Tisch gleiten, auf der Tonspur ist nur ein weit entferntes Summen zu hören. Eine Überblendung vergrößert die Noten auf der Leinwand, dann sehen wir die groß gewachsene Frau gleichzeitig beim Frühstück und vor dem Orchester – versunken, mit geschlossenen Augen und weit ausholenden Bewegungen. Wenn man will, liegt in dieser kurzen Sequenz das Geheimnis dessen, was der Film über knapp 90 Minuten ergründen möchte: Wie beim Lesen der Partitur zuerst im inneren Ohr eine ganz persönliche Interpretation der Musik entsteht –und wie der Körper das im Kopf Gehörte später in Bewegungen übersetzt, um es anderen mitzuteilen.
Über dieses Wunder zu sprechen, ist das eine. Joana Mallwitz kann das sehr gut und es ist ihr auch wichtig, wie die sogenannten „Expeditionskonzerte“ zeigen, die sie begründet hat. In ihnen analysiert sie ein bestimmtes Werk anhand einzelner Passagen für das Publikum. Aber die andere Annäherung an das Wunder ist das Sehen, und zwar nicht von hinten wie im Konzertsaal, sondern von vorn, in halbnaher Einstellung. Was während des Dirigierens mit Joana Mallwitz‘ Körpersprache, Mimik und Augen geschieht, lässt sich kaum in Worte fassen. Man muss es gesehen haben – dieses bedingungslose Eintauchen in den Moment, diese komplett weltenrückte Versenkung, dieses Mitempfinden sämtlicher Gefühle, von himmlischer Freude bis höllischem Schmerz. Am Pult ist sie derart konzentriert, dass Beobachter von Zen-hafter Fokussierung sprechen.
Auch wenn man Superlative meiden will, sollte man kurz den Werdegang der 37-Jährigen schildern. Geboren wird sie in einen Hildesheimer Lehrerhaushalt, in dem immer ganz selbstverständlich ein Piano stand, auf dem sie schon als Kind zusammen mit der Mutter spielte. Im Alter von fünf Jahren erhält sie Geigen- und Klavierunterricht. Als Teenager geht die Hochbegabte zur Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Dort erlebt sie beim Lesen der Partitur von Franz Schuberts „Unvollendeter“ ein Schlüsselerlebnis: „Von da an wusste ich, dass ich mein Leben mit dieser Musik verbringen will“. Ein erstes Engagement führt sie als Repetitorin und dann als Kapellmeisterin an die Oper Heidelberg. Zur Spielzeit 2014/2015 wechselt sie als Generalmusikdirektorin nach Erfurt und vier Jahre später nach Nürnberg. Dort trifft sie 2020 Regisseur Günter Atteln wieder, der einen Film über sie drehen will. Der Dokumentarist hat Glück, denn ein Jahr nach der Verabredung erhält die Dirigentin den Ruf nach Berlin, sodass sich die zwei Jahre Drehzeit wie eine Steigerung auf den bisherigen Höhepunkt ihrer Karriere anfühlen, nämlich das Antrittskonzert im September 2023.
Natürlich ist „Joana Mallwitz – Momentum“ ein Film für Freunde der sogenannten klassischen Musik – ein Wort, das die Dirigentin übrigens nicht mag; sie spricht lieber von guter Musik. Die Doku wird Kenner ebenso ansprechen wie nur gelegentliche Konzertgänger. Aber sie hat auch das Zeug zum Brückenbauen – hin zu einem Publikum, das sich vom elitärem Habitus und dem bildungsbürgerlichen Bescheidwissen einer meist überalterten Zuhörerschaft bislang abschrecken ließ. Joana Mallwitz könnte die Botschafterin einer jüngeren Generation werden, weil sie mit großer Selbstverständlichkeit so lebt wie andere junge Frauen auch: berufstätig mit Kind, in gleichberechtigter Partnerschaft mit ihrem Mann, dem Tenor Simon Bode, und genervt von den ewig gleichen Fragen nach ihrem Frausein. Für sie ist das Thema „Dirigentin in Männerdomäne“ ein lästiger Filter, der die einzige Sache vernebelt, die ihr am Pult wichtig ist: Musik.
Joana Mallwitz ist erst Mitte 30, als sie den Ruf an das renommierte Konzerthausorchester Berlin annimmt. Trotzdem hat sie bereits 15 Jahre Berufserfahrung. Was sie antreibt und wie sie die klassische Musik für ein breiteres Publikum öffnet, zeigt die einfühlsame Doku von Günter Atteln.