Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel interessiert sich in ihren Arbeiten nicht zuvorderst für Themen, sondern vor allem für Menschen. Darunter in erster Linie für die, die wie sie selbst aus der ehemaligen DDR kommen. Deshalb ist es vielleicht nur auf den ersten Blick überraschend, dass sie nach mehreren politisch brisanten Biografien nun einen Film über den Fußballclub 1. FC Union Berlin gemacht hat. Auch hier widmet sie sich nicht nur dem Geschehen auf dem Rasen, sondern vor allem den Leuten, die sich im Hintergrund für den Erfolg der Mannschaft engagieren. Sie nennt das den „Maschinenraum“. Dort schaut sie den Menschen bei ihrer Arbeit über die Schulter. Zugleich und fast wie nebenbei fängt sie den kometenhaften sportlichen Aufstieg der Jahre 2021 bis 2023 ein, in denen es Union in die europäischen Ligen schaffte, bis in die Champions League. Zum Start der Dokumentation „Union – Die besten aller Tage“ sprachen wir mit der Regisseurin über ihr gewandeltes Interesse am Fußball, über ihr Verhältnis zu Stadion- und Pressesprecher Christian Arbeit und über den Unterschied zwischen Erzählen und Erklären.
Wie sehr interessierten Sie sich für Fußball, bevor Sie diesen Film gedreht haben?
Gar nicht. Ich habe mitgeguckt, wenn Weltmeisterschaften waren und wenn andere das geschaut haben. Ich selber habe keine Initiative ergriffen.
Sie sind in der Nähe des Stadions aufgewachsen. Welche Bedeutung hatte der Verein damals für das Viertel?
Ich bin am Wald des alten Königforstes aufgewachsen, an dem das Stadion steht. Ich habe mich zwar nicht für Fußball interessiert, aber der Verein Union war für uns Kinder ein ganz wesentlicher Bestandteil unseres Alltags. Man war dafür, man brüllte „eisern“. Das gehört zu meinem Kinderleben dazu.
Wie ist es Ihnen gelungen, genau die richtige Phase der Vereinsgeschichte einzufangen? Hatten Sie einen Riecher oder haben Sie Tipps bekommen?
Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, über Union einen Film zu machen, weil ich den Verein für ein absolut gutes Beispiel dafür halte, welches Potenzial Menschen aus dem Osten entwickeln können. Ich hatte aber nie die Möglichkeit, dieses Projekt umzusetzen, aufgrund von anderen Filmvorhaben. Insofern ist es fast Zufall, dass ich vor drei Jahren damit begonnen habe. Aber ich drehte dann viel länger, als ich wollte, weil ich hoffte, da kommt noch was. Das kann man einen Riecher nennen. Aber man kann auch sagen, der Verein hat mir den Gefallen getan, dass sie dann so erfolgreich wurden. Der Verein hat das prima eingerichtet und ich habe so lange gewartet, bis es soweit war. (Lacht)
Wenn man an eine Institution herantritt, die eine eigene Marketing- und Presseabteilung hat, dann muss man damit rechnen, dass diese Institution eigene Interessen einbringt. Wie haben Sie Ihren Ansprechpartnern erklärt, was das für ein Film werden soll und was nicht?
Die Presseabteilung wird geleitet von Christian Arbeit, der ein großer Liebhaber von Literatur und Film ist. Er kannte meine Filme schon, bevor ich an ihn herangetreten bin. Zum Beispiel fragte er mich nach meinem Film „Vaterlandsverräter“, ob er sich bei mir ein Buch von dem Schriftsteller Paul Gratzik, dem Hauptprotagonisten, leihen könnte. Darüber haben wir uns kennengelernt. Ich musste mich also nicht großartig erklären und ich konnte ihn anrufen in dem Bewusstsein, dass er weiß, wie ich arbeite. Die Basis der Kooperation für den Union-Film war, dass es keinen Einfluss darauf gibt. Das wollte ich nicht und das wollte auch der Verein nicht. Der Verein hatte ja schon eigene Filme nach eigenen Vorstellungen produziert. Er hatte einfach das Vertrauen in mich, Und sie waren neugierig auf meinen Blick. Ich hatte alle Freiheiten.
Wie muss man sich die Dreharbeiten vorstellen? Waren Sie täglich vor Ort oder gab es bestimmte Zeiten, von denen Sie dachten, heute passiert etwas Interessantes?
Erstmal musste ich alles kennenlernen. Das hat viel Zeit in Anspruch genommen. Ich war an Spieltagen da, aber auch jenseits von Spieltagen, zunächst einmal alleine, als eine Art Recherche, bei der ich auch schon ein bisschen drehte. Irgendwann habe ich dann richtig angefangen zu drehen mit den Kameraleuten Martin Farkas und Roman Schauerte. Dann guckt man auf bestimmte Spiele und bestimmte Ereignisse. Mich hat insbesondere der Arbeitsalltag in der der Chefetage interessiert. Da hieß es vom Präsidenten, man könne nicht authentisch agieren, wenn da ein ganzes Filmteam komme. Ich habe dann den Vorschlag gemacht, dass ich alleine in die Chefetage gehe, mit Kamera und Ton-Equipment. Es hieß, wichtige Entscheidungen würden oft auf dem Flur getroffen und nicht auf Präsidiumssitzungen. Ich war dann einfach oft da, manchmal mit Termin und manchmal ohne, nach Gefühl oder Instinkt. Ich verbrachte viel Zeit dort und wollte das auch.
Wie viele Stunden Material sind dabei zusammengekommen?
Das haben der Schnittmeister Jörg Hauschild und ich nicht nachrechnen wollen. Wir haben bei Spielen manchmal mit drei Kameras gedreht. Es war unfassbar viel Material. Wir hatten dann irgendwann eine Fassung von viereinhalb Stunden. Es war schwer, auf zwei Stunden zu kommen.
Heißt das, dass der Schnittmeister für die viereinhalb Stunden schon viel vorsortieren musste?
Nein. Ich schaue mir mit Schnittmeister alles gemeinsam an und wir schneiden das Material dann auch sofort. Wir arbeiten schon lange zusammen und sind sehr schnell, aber bei diesem Film hat der Schnitt trotzdem lange gedauert, weil es so viel Material gab.
Das zentrale Interesse Ihres Films gilt dem „Maschinenraum“, also den Leuten, die den Verein organisatorisch zusammenhalten. Was ist aus Ihrer Sicht das Erfolgsgeheimnis dieses Teams.
Das sage ich Ihnen nicht. (Lacht) Ich habe im Film vermieden, solche Fragen zu stellen und ich möchte jetzt auch nicht solche Antworten geben. Es kommt mir darauf an, dass jede und jeder sich solche Fragen selber beantworten kann. Ich biete an, zwei Stunden dabei zu sein, wie Union die Arbeit macht, und dann kann man daraus etwas ziehen. Mich würde zum Beispiel interessieren, worin Sie das Erfolgsgeheimnis sehen.
Ich hatte den Eindruck, dass der sehr freundschaftliche Umgang miteinander eine Rolle spielt. Außerdem die kurzen Entscheidungswege und die Leidenschaft, mit der diese Leute ihren Job machen. Und die Freude, die sie dabei haben. Ich habe ein kleines, eingeschworenes Team gesehen.
Wenn Sie das so erleben, freut mich das. Andere Menschen sehen vielleicht etwas Anderes. Ich will mit dem Film, dass jede und jeder mit ihrem oder seinem Hintergrund, ihren und seinen Erfahrungen sich jeweils einen eigenen Reim darauf macht. Ich würde ungern Union erklären. Stattdessen will ich den Verein erzählen. Das ist ein großer Unterschied. Ich fände es schön, wenn man durch den Film ins Gespräch darüber kommt, was Union eigentlich ausmacht.
Was hat Sie am meisten überrascht bei der Begegnung mit diesen Fußballbegeisterten?
Die größte, völlig unerwartete Erkenntnis ist eine ganz einfache, nämlich wie wichtig Fußball in der Gesellschaft ist. Ich meine damit, dass Leute aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Blasen im Stadion zusammenkommen. Gerade jetzt, wo man von der Spaltung der Gesellschaft reden muss, ist es ein überwältigendes Erlebnis, wenn Menschen aus ganz verschiedenen sozialen Schichten zusammen Lieder singen. Hinzu kommt auch, wie wichtig die Ultraszene für junge Menschen ist, wohl di größte Jugendbewegung in ganz Deutschland und in ganz Europa.
Ist das die Erklärung, warum der Film die Ultras nicht kritisch beleuchtet? Sie tun ja Dinge, die nicht erlaubt sind, zum Beispiel Pyrotechnik abfackeln.
Ich bewerte das nicht, sondern erzähle es. Ob etwas erlaubt ist oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass ich es interessant finde. Das ist in all meinen Filmen so. Auch hier bevorzuge ich es, wenn die Zuschauer das nach dem Film, mit dem eigenen Bockground miteinander diskutieren können.
Die Auswahl der Protagonisten ergibt sich zum Teil von selbst. Der Präsident und der Stadionsprecher sind quasi gesetzt. Aber eigentlich wird der Film von drei Frauen getragen. Wie ist die Entscheidung gefallen, dass den Frauen eine zentrale Rolle zukommen soll?
Intreressant, dass Sie das sagen, andere sehen andere Hauptfiguren. Aber was ich gefunden habe, ist ganz typisch für etwas, was ich in Ostdeutschland erlebt habe: nämlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Frauen am Arbeitsleben teilnehmen und Verantwortung tragen, ohne Quote oder andere Vorgaben. Genauso selbstverständlich sind diese Frauen in meinen Film gekommen. Mir war gar nicht klar, dass Frauen im Männerfußball diese interessanten Funktionen besetzen können. So ist es auch in dieser Saison, die nicht im Film vorkommt, zum Beispiel mit Marie-Louise Eta, die bei Union die erste Co-Trainerin einer Männermannschaft in der Bundesliga wurde. Das hat etwas damit zu tun, dass dieser Ost-Verein gar nichts Besonderes dabei findet, wenn Frauen Verantwortung übernehmen.
Glauben Sie, dass Union seine Besonderheiten und seine Abgrenzung von Vereinen, bei denen der Kommerz eine viel größere Rolle spielt, langfristig im Bundesliga-Geschäft durchhalten kann?
Die Haltung zum Kommerz ist ambivalent. Man kann in dieser Liga nur überleben, wenn man über die nötigen finanziellen Mittel verfügt. Wie soll man da bodenständig bleiben, wenn das bedeutet, das man auf Geldeingänge verzichtet. Dieser Spagat wird sicher weitergehen. Ich kann also keine Prognose abgeben, aber der Film kann als Momentaufnahme von diesem Spannungsverhältnis erzählen. Natürlich will man, dass möglichst viel dabei herausspringt, wenn der Marketing-Mann mit Sponsoren und Ausrüstern verhandelt. Und wenn sich die Umsätze innerhalb eines Jahres verdoppeln, dann ist das im Interesse von Union. Mit dem Eintritt in die Champions League, der Königsklasse des Fußballs, ist es dem Verein in der Saison 2022/2023 gelungen, mit relativ kleinen Mitteln etwas Großes zu erreichen. Ich habe versucht, sehr genau die Gegenwart zu beleuchten. Und warum nicht, ich wünsche mir, dass der Film zum Anlass genommen wird, auch darüber zu sprechen, wie die Zukunft im Profifußball aussehen könnte. Und das nicht nur für diesen Verein.
Hat sich durch den Film etwas an Ihrer Haltung gegenüber dem Fußball geändert? Interessieren Sie sich inzwischen mehr dafür? Schauen Sie die Heimspiele von Union?
Dadurch, dass ich nun weiß, welche Bedeutung Fußball für Menschen hat, nehme ich vieles ganz anders wahr. Früher hat es mich manchmal verstört, wenn ich Fans durch die Straßen habe laufen sehen oder betrunken in der S-Bahn. Heute weiß ich, dass sie in diesem Moment glücklich, dass sie zusammen sind und dass sie vielleicht einen großen Part ihres Lebens auf die Spieltage ausrichten. Außerdem schaue ich mir inzwischen gern Fußball an. Wenn ich kann, gehe ich immer zu den Heimspielen.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Schon seit sechs Jahren bereite ich einen Film über die Insel Hiddensee vor, über ihre Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der letzten hundert Jahre, von den goldenen 1920er Jahren bis heute in unsere 20er. Vielleicht werde ich den Film in diesem Jahr drehen und im nächsten Jahr fertig stellen. Und als übernächsten Film plane ich einen Film über Frauen, und zwar wie bei all meinen Filmen, sehr subjektiv
Zur Person:
Annekatrin Hendel, in Ost-Berlin geboren, ist eine deutsche Produzentin, Regisseurin, Drehbuchautorin und Szenenbildnerin, die sich vor allem dem Dokumentarfilm gewidmet hat. Bevor sie selbst Filme drehte, arbeitete sie nach ihrem Designstudium ab 1987 zunächst als Kostüm- und Szenenbildnerin. 2004 gründete sie ihre eigene Filmproduktionsfirma „It Works! Medien“. 2011 erschien ihr erster Kino-Dokumentarfilm „Vaterlandsverräter“. Die Doku über den DDR-Schriftsteller Paul Gratzik bildete den Auftakt für die „Verrats-Trilogie“. 2014 feierte „Anderson“, der zweite Teil der „Verrats-Trilogie“, auf der Berlinale Premiere. Hendels Folgeprojekt war das Kino-Porträt „Fassbinder“. Mit „Familie Brasch“ schloss Annekatrin Hendel 2018 ihre „Verrats-Trilogie“ ab. Daneben drehte sie Filme über die Künstlerin Ines Rastig („Fünf Sterne“, 2017) und den Fotografen und Berghain-Türsteher Sven Marquardt („Schönheit & Vergänglichkeit“, 2019). Sie hat zwei Kinder. Als Produzentin realisierte sie über 30 Filme.