Ein Operationssaal im Iran: Ärzte ringen um das Leben von Elham (Taraneh Alidoosti), die von ihrem Ehemann fast zu Tode geprügelt wurde. Nach Monaten verheilen die physischen Wunden der ehemaligen Rettungsschwimmerin, aber die seelische Erschütterung bleibt. Mit Mühe gelingt es Elhams fürsorglichem Vater Saeed (Masoud Karamati), sie zu einer Rückkehr in ihr früheres Leben als Sportlerin zu bewegen. Elham stellt einen Rekord über zwölf Kilometer Langstreckenschwimmen im offenen Meer auf. Und das, obwohl sie in einer kiloschweren Ganzkörperbekleidung ins Wasser ging, um die Vorschriften der Regierung nicht zu verletzen. Trotzdem erkennt der Staat die Leistung nicht an. Wettkämpfe für Frauen im offenen Wasser seien generell verboten, sagt Nazar (Mahtab Keramati), die Leiterin der Abteilung für Frauensport im zuständigen Ministerium. Aber dieses Mal lässt sich Elham von der patriarchalischen Gesellschaft nicht kleinkriegen. Sie trainiert, schwimmt und kämpft, als ginge es um Leben und Tod. Und darum geht es im übertragenen Sinn auch in dem wuchtigen und berührenden Emanzipationsdrama der iranischen Regisseurin Sahar Mosayebi.
Mitten in der Nacht. Das Kaspische Meer tobt, am Himmel zucken Blitze. Auf der Tonspur warnen dramatisch-melancholische Orchesterklänge vor Gefahr. Ruhig und entschlossen schreitet Elham in die Wellen, die Kamera folgt ihr dicht bis in die Brandung. Dort verharrt sie und sieht zu, wie der schwarz verhüllte Körper in den Fluten versinkt. Doch der Freitod scheitert. Stunden später – die Sonne geht gerade auf – steigt die junge Frau aus den Fluten, durchgefroren und entkräftet. Das Meer will sie nicht, es ist ihr Freund und trägt sie. Das Symbol für Unendlichkeit wird zur Sehnsuchtsmetapher für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, für innere Kraft und Durchsetzungswillen. Es ist ein starkes Bild wie so viele in diesem Drama, das mit Metaphern arbeitet, um hinter der persönlichen Geschichte auch eine politische zu erzählen.
Regisseurin Sahar Mosayebi und Drehbuchautorin Tala Motazedi greifen in „Orca“ die reale Geschichte der Langstreckenschwimmerin Elham Asghari (Jahrgang 1981) auf, die sich als erste iranische Frau in das Guinness-Buch der Rekorde einschrieb. Der Abspann listet die lange Liste ihrer sportlichen Erfolge zwischen 2008 und 2019 auf, darunter die sagenhafte Leistung im Schwimmen mit gefesselten Händen. Die starke Metapher liefert geradezu die Vorlage einer filmischen Verdichtung, die sich ein paar Freiheiten nimmt, um genau das emotionsstarke Erzählen in visuellen Motiven zu verstärken.
„Orca“ geht somit wie bereits Mosayebis Debüt, die Dokumentation „Platform“ über drei Kampfsportlerinnen, weit über einen reinen Sportfilm hinaus. Vordergründig kämpfen Elham und ihre Unterstützer:innen lediglich um die Gleichberechtigung als Athletinnen und gegen das Verbot weiterer Sportarten wie Basketball oder Ringen im iranischen Frauensport. Aber wie sie das tun, wie Journalistinnen unbequeme Fragen stellen und weibliche Fans Sprechchöre skandieren – das sagt einiges über den Widerstandsgeist der iranischen Zivilgesellschaft und besonders der Frauen aus. Die Regisseurin greift weitsichtig diesen Zorn auf, der im vergangenen Jahr nach dem Tod von Mahsa Amini geradezu explodierte und weltweit sichtbar wurde.
Dabei benutzt die Regisseurin das Genre des Sportfilms nicht nur als Maskerade, sondern nimmt es in einem grandiosen Finale durchaus ernst, inklusive seines Spannungs-und Unterhaltungswertes. Auch Elemente aus Familiendrama sowie märchenhafte Einsprengsel gehen in den überzeugenden Mix aus publikumswirksamen Genres ein. Das macht verständlich, warum es überhaupt eine Drehgenehmigung gab und die Zensoren die kritische Unterströmung offenbar übersahen. Trotz allem ist der Mut sämtlicher Beteiligten zu bewundern, die mit ihrem unerschrockenen Einsatz für Frauenrechte eine Menge riskieren. Aber die iranischen Filmschaffenden sind ja seit langem für ihre Furchtlosigkeit bekannt. Hauptdarstellerin Taraneh Alidoosti („The Salesman“ von Asghar Farhadi, 2016), die hier eine Menge Herzblut in den Kampfeswillen ihrer Figur legt, bekannte sich zum Beispiel schon 2016 öffentlich zum Feminismus. In ihrem nuancierten Spiel zwischen depressiver Erstarrung und unermüdlicher Zähigkeit spiegelt sich die Gefühlsskala nicht nur von Elham Asgari, sondern von einer ganzen Generation.
„Orca“ erzählt auf der Basis wahrer Begebenheiten von einer jungen Frau, die nach einer schweren Gewalterfahrung Trost im Schwimmsport findet. Regisseurin Sahar Mosayebi setzt auf packende Bilder und verbindet den Unterhaltungswert ihres Genre-Mixes mit einer hellsichtigen Analyse von der Lage der Frauen im Iran.