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Eine Frage der Würde – Blaga’s Lessons

Geschrieben von Peter Gutting am 19. Dezember 2023

Die ehemalige Lehrerin Blaga (Eli Skorcheva) lebt allein in einer heruntergekommenen Industriestadt. Sie trauert um ihren Mann, der gerade gestorben ist. Blaga muss sich um alles selbst kümmern, denn ihr Sohn Lyudmil (Gerasim Georgiev) ist in die USA ausgewandert. Doch sie beißt die Zähne zusammen und will nur noch eins: ein schönes Grab für sich und ihren Mann. Der windige Friedhofsmanager (Stefan Denolyubov) spürt das und treibt für jeden Extrawunsch den Preis nach oben. Aber Blaga, die ihre karge Rente durch Nachhilfeunterricht aufbessert, kratzt alle Ersparnisse für die letzte Ruhestätte zusammen. Einen Tag, bevor die Zahlung fällig wird, fällt sie jedoch auf einen Trickbetrüger herein. Alles Geld ist weg und völlig unklar, woher nun Ersatz kommen soll bis zum Ablauf der vier Wochen, in denen die Asche ihres Mannes gemäß der religiösen Tradition unter der Erde sein muss. In ihren verzweifelten Versuchen, die Summe doch noch irgendwie aufzutreiben, überschreitet Blaga irgendwann eine legale und vor allem moralische Grenze. Das zieht sie mehr und mehr in eine Abwärtsspirale im erschütternden Sozialthriller des bulgarischen Regisseurs Stephan Komandarev.

Die Worte aus dem Off klingen wie die eines Immobilienmaklers: „zentral gelegen, nahe der Bushaltestelle, im Sommer kühl, im Winter zieht es nicht“. Kurzum: „wirklich ein Glücksgriff“. Bei diesen Worten verschwindet das Schwarzbild und der Blick fällt auf etwas, was sich nur mit Mühe als Wohnstätte interpretieren lässt: der verwilderte Platz für ein Grab. Alles scheint eine Ware geworden zu sein in dieser Gesellschaft, ein Sache von Angebot und Nachfrage. Da verwundert es nicht, dass der Manager des Friedhofs, der offensichtlich privatisiert wurde, wenig später sagt: „So geht Marktwirtschaft. Wer als erster zahlt, bekommt das Grab.“ Damit setzt er den Ton für die im neorealistischen Stil gehaltene Sozialstudie, die den gesellschaftlichen Werteverfall dem Publikum allerdings nicht plump aufs Auge drückt, sondern en passant einflicht in eine Spannungsdramaturgie, die aus Schuld erwächst. Die emotionalen Konsequenzen eines nachvollziehbaren und zugleich verabscheuungswürdigen Verbrechens führen dabei ganz langsam, aber unabwendbar in den Abgrund.

Stephan Komandarev und sein Drehbuch-Koautor Simeon Vensislavov arbeiten mit der größtmöglichen Fallhöhe für den späteren Absturz. Sie zeichnen Blaga als eine Lehrerin vom alten Schlag: streng, aber hinter der akkuraten Fassade auch warmherzig. Die 70-Jährige legt enormen Wert auf Korrektheit und Regelkonformität. Als studierte Literaturwissenschaftlerin liebt sie die Sprache und ahndet jeden Grammatikfehler und jede Schludrigkeit mit missbilligender Korrektur, auch im Alltag und egal, mit wem sie gerade spricht, sei es die Bankangestellte, ihr Sohn oder der Friedhofsmanager. Blagas Figur ist wie aus dem Leben gegriffen. Jeder, der in den 1950ern oder 1960er Jahren zur Schule ging, kann sich an eine solche Lehrerin erinnern. Und auch wenn ihre Geschichte nicht auf einem realen Fall beruht, so hätte sie genau so hier und heute passieren können, übrigens nicht nur in Bulgarien, sondern überall, wo alte Menschen aufs Abstellgleis geschoben und in ihrer Hilflosigkeit ausgenutzt werden. In ihrer Recherche haben die Filmemacher sogar echte Trickbetrüger kennengelernt.

Und auch vieles andere kennt man nicht nur im armen Bulgarien, sondern auch in den reicheren westlichen Ländern: die Armut der Alten, ihre Einsamkeit, ihre Scheu, den Kindern zur Last zu fallen sowie das zunehmende Gefühl, nicht mehr in diese Zeit zu passen, die sich so schnell ändert und in der die alten Werte nichts mehr gelten. Der einfühlsam fotografierte Film nähert sich der zugeknöpft-sachlichen Blaga dabei nicht als Opfer, sondern als immer noch tatkräftiger Frau, die sich als Identifikationsfigur anbietet. Der ganze Film dreht sich nur um sie, er ist ein One-Woman-Drama ohne wirklichen Gegenspieler, denn die Trickbetrüger bleiben unsichtbar. Es fällt leicht, Blagas Weg mitzugehen, selbst dann, als sie den Pfad des Gesetzes verlässt.

Alles steht und fällt mit der herausragenden Schauspielleistung von Eli Skorcheva. 30 Jahre hatte die Hauptdarstellerin nicht mehr vor einer Kamera gestanden. Nach ersten großen Rollen in bekannten bulgarischen Filmen zog sie sich Anfang der 1990er Jahre aus dem Kino zurück. Auch auf dem Theater war sie nur noch selten zu sehen. Ihr grandioses Comeback trägt den Film. Mit einer staunenswerten Einfühlungskraft spielt sie äußert verschlossen und zugeknöpft – und zugleich ungeheuer durchlässig. Jede kleinste emotionale Regung lässt sich an ihren Augen ablesen, auch wenn sie sonst kaum eine Miene verzieht. Besonders authentisch wirkt sie in der langen Schlüsselszene des Films: In den wenigen Minuten des Trickbetrugs sind wir in einer einzigen schnittlosen Einstellung ganz bei ihr, bei ihrer wachsenden Panik, ihrer Verwirrung und ihrer tiefen Verzweiflung. Völlig zu Recht wurde Eli Skorcheva beim renommierten A-Filmfestival in Karlovy Vary mit dem Preis für die beste Hauptdarstellerin geehrt. Auch der Film selbst gewann dort den Großen Preis. Er geht zudem für Bulgarien ins Oscar-Rennen.

„Eine Frage der Würde – Blaga‘s Lessons“ erzählt vom Schicksal einer pensionierten Lehrerin, die auf einen Trickbetrüger hereinfällt. Regisseur Stephan Komandarev macht daraus einen spannenden Thriller und eine erschütternde Sozialstudie.

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Copyright: Jip Filmverleih, Svetoslav Stoyanov

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Länge: 119min

Kategorie: Drama, Thriller

Start: 25.01.2024

cinetastic.de Filmwertung: (9,0/10)

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Eine Frage der Würde – Blaga’s Lessons

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 119min
Kategorie: Drama, Thriller
Start: 25.01.2024

Bewertung Film: (9,0/10)

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