Alzheimer ist eine der größten Tragödien, die einen Menschen treffen können. Und doch beschäftigt sich das Kino immer wieder aufs Neue mit dem völligen Verlöschen der Persönlichkeit. Oder vielleicht gerade deshalb: Um das schreckliche Thema, das man am liebsten verdrängen möchte, mit Hilfe der Fiktion an sich heranlassen zu können. Wie zuletzt beim herausragenden „The Father“ (2020) von Florian Zeller mit einem grandiosen Anthony Hopkins in der Hauptrolle. Wer im Gegensatz zu diesem existenziellen Drama auch etwas Humor in die Darstellung mischt, wandelt auf einem heiklen Grad. Und doch beschreitet der kanadische Regisseur Éric Tessier gerade diesen Weg – mit ein paar Wacklern, aber ohne abzustürzen.
Ein feuchtfröhlicher Abend: Der pensionierte Geschichtsprofessor Édouard (Rémy Girard) geht mit Tochter Isabelle (Julie Le Breton) und deren Partner Patrick (David Boutin) schick essen. Bei der dritten Flasche Wein scherzt Édouard über die positiven Seiten seiner erschreckend zunehmenden Vergesslichkeit. Für ihn sei jedes Glas das erste. Wieviel er schon getrunken hat, darüber legt sich der neblige Schleier der Amnesie. Nur für den Augenblick zu leben, dieser Traum scheint für einen Moment greifbar. Isabelle fühlt sich ihrem Papa so nahe wie lange nicht. Für ein paar Stunden ist der ganze Stress der Betreuungsarbeit wie weggeblasen. Doch der Realitätsschock lässt nicht lange auf sich warten. Auf der Rückfahrt im Auto schaut der alte Herr die blondgelockte Frau neben ihm entgeistert an: „Wer bist du“? Komödie und Drama liegen nur einen Schnitt entfernt in einer Mischung, die nicht zuletzt mit dem Charakter von Édouard zu tun hat.
Der ehemalige Historiker und Frauenheld strotzt nämlich noch immer vor Eitelkeit und Selbstüberschätzung. Er habe ein „phänomenales Gedächtnis“ für geschichtliche Daten und Fakten, erzählt er dem Fernsehteam, das sich für seine Krankheit interessiert. Édouard klammert sich wie ein Besessener an sein Langzeitgedächtnis, um die wachsende Erschütterung seines Selbstbildes zu übertünchen. Er tritt herrisch, aufbrausend und dominant auf, bricht aber im nächsten Moment hilflos in sich zusammen wie ein Kind, fordernd und selbstbezogen. Madeleine (France Castel) hält das nicht mehr aus. Sie packt ihre Sachen und liefert ihren Mann bei der Tochter ab. Aber weil Isabelle arbeiten muss, engagiert sie gegen Bezahlung Bérénice (Karelle Tremblay) fürs Senioren-Sitting, die Tochter ihres Lebensgefährten, die mit Anfang 20 planlos in den Tag hineinlebt und die Miete nicht bezahlen kann. Die flippige Bérénice und der altmodische Édouard, der gegen die Verdummung der heutigen Jugend wettert, könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch wider Erwarten findet die junge Frau einen Draht zu dem verstockten alten weißen Mann.
„Du wirst mich in Erinnerung behalten“ basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück des Kanadiers François Archambault. Aber die Inszenierung verlässt sich keineswegs auf Dialoge, Charakter- und Situationskomik der Vorlage. Sondern übersetzt den wachsenden Selbstverlust in Bilder von teils poetischer Schönheit, teils überzogener Sentimentalität. Gelungen in ihrem unaufdringlichen Symbolismus wirken zum Beispiel das wiederkehrende Motiv vom wankenden Schilfrohr sowie der gezielte Einsatz der Jahreszeiten: traurig-schöne Melancholie des Herbstes, klirrende Kälte des Winters. Problematischer erscheinen dagegen die Rückblenden, in denen sich Édouard an die erste Verliebtheit mit Madeleine sowie an märchenhaft romantische Familienszenen erinnert. Selbst wenn man die verständliche Verklärung beim Erinnern berücksichtigt, stößt der übermäßige Kitsch doch unangenehm auf.
Pluspunkte verdient hingegen die Vielfalt der aufgeworfenen Fragen. Gibt es einen anderen Weg als die Heimunterbringung? Welchen Preis verlangt die Krankheit den Angehörigen ab? Ist es erlaubt, den schwindenden Geist in Fantasievorstellungen zu bestärken oder muss man ihn immer wieder mit der Nase auf die harte Realität stupsen? Sind der Freitod oder der assistierte Suizid ein legitimes Mittel, um ein jahreslanges Dahinvegetieren abzukürzen? Ein weiteres Highlight ist zudem die Leistung von Hauptdarsteller Rémy Girard („Der Untergang des amerikanischen Imperiums“, 1986, „Die Invasion der Barbaren“, 2003). Er verleiht seiner nicht auf den ersten Blick sympathischen Figur etwas ebenso Sturköpfiges wie Verletzliches. Virtuos zieht der Schauspieler alle Register, um sämtliche Emotionen in der Frühphase der Krankheit glaubhaft abzudecken: Verwirrung, Angst, helle Momente, Verzweiflung, Wut und zuletzt erbarmungswürdige Hilflosigkeit. Ebenso erstaunlich: die Kraft, die das Nachwuchstalent Karelle Tremblay als Bérénice der Wucht des Altstars entgegensetzt. Wie bei einem verfilmten Theaterstück kaum anders zu erwarten, hängt eben vieles von der elektrisierenden Chemie der Schauspieler ab.
Ein alternder Geschichtsprofessor weiß noch jedes Detail aus dem Trojanischen Krieg, erkennt aber seine eigene Tochter nicht mehr. Daraus macht der kanadische Regisseur Éric Tessier eine Tragikomödie mit unaufdringlichem Symbolismus und zwei überzeugenden Hauptdarstellern.