Die Tunesierin Olfa Hamrouni hat vier Töchter. Die jüngsten heißen Tayssir und Eya. Aus ihnen sind aufgeschlossene, emanzipierte junge Frauen geworden. Die beiden ältesten, Ghofrane und Rahma, haben sich hingegen den islamistischen Terroristen des sogenannten „IS“ angeschlossen. Warum? Die Mutter macht dafür Fehler und Versagen der Regierung verantwortlich. Doch die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania („Der Mann, der seine Haut verkaufte“, 2020) will es in einer semi-dokumentarischen Rekonstruktion der Ereignisse genauer wissen. Dazu engagiert sie drei Schauspielerinnen und einen Schauspieler, die gemeinsam mit den „echten“ Familienmitgliedern vor die Kamera treten. Ichraq Matar und Nour Karoui verkörpern die verschwundenen Schwestern Ghofrane und Rahma. Sie komplettieren sozusagen die einstige Kernfamilie. Majd Mastoura gibt verschiedenen Männern ein Gesicht, die eine vorübergehende, aber doch prägende Rolle im Leben der alleinerziehenden Olfa gespielt haben. Und immer, wenn die Erinnerungen für die Mutter zu schmerzlich werden, übernimmt Schauspielerin Hend Sabri deren Part.
Das klingt kompliziert, fühlt sich aber überraschend organisch an. Etwa wenn sich alle zum ersten Mal treffen und auf ein rotes Sofa setzen. „Sie ähnelt Ghofrane“, stellt Eya fest, als sie die Schauspielerin betrachtet, die ihre älteste Schwester mimt. Dann setzen sie sich kurz um, weil Olfa sich erinnert, dass Ghofrane immer näher bei ihr saß und sie umarmte, während Rahma die Distanziertere der beiden war. Für einen Moment scheint die Idylle perfekt. Fünf stolze, ein wenig aufgeregte Frauen schmiegen sich eng aneinander auf das Sofa. Doch dann schießen Olfa die Tränen in die Augen und man versteht, warum es für diesen Film zwei Olfas braucht, eine „echte“ und eine Spielerin.
Aber das ist nicht der einzige Grund für dieses hoch emotionale, einer Therapie vergleichbare Nachspielen der Vergangenheit. Regisseurin Kaouther Ben Hania hatte bereits 2016 angefangen, eine reine Dokumentation über Olfa und ihre beiden verbliebenen Töchter zu drehen. Aber die Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt schon Erfahrung im Umgang mit den Medien. Sie war in mehreren TV- und Radiosendungen aufgetreten. Und die Regisseurin merkte, dass die traumatisierte Frau eine Rolle spielte, sobald die Kamera lief: die einer Tragödin, die von eigenen Schuldgefühlen und Anklagen gegen andere zerrissen wurde. Die Regisseurin aber wollte keine Klischees zeigen, sondern den ganzen komplexen und in sich widersprüchlichen Charakter: selbstbewusst und doch von Männern geprägt, modern und traditionsverhaftet, lebensbejahend und von Trauer zerfressen.
Trotz des herzzerreißenden Verlustes ist „Olfas Töchter“ kein trauriger Film geworden, sondern einer, der Mut macht, sich der Vergangenheit zu stellen. Die Balance zwischen Melancholie und Lebensfreude verdankt sich unter anderem dem ausgefeilten ästhetischen Konzept, das mit kunstvollen Spiegelungen und malerischen Bildkompositionen arbeitet. Die Gesichter wirken oft wie Porträts, einzeln oder in Gruppen, in warmes Licht getaucht. Es ist, als wollte die Kamera von Farouk Laaridh sowohl den Reiz äußerer Schönheit feiern als ihn auch transzendieren, um einer tieferen Wahrheit näher zu kommen. Fast alle Szenen spielen in Innenräumen, Gesichter ersetzen Landschaften, die Reise geht nach innen.
Natürlich gibt es keinen alleinigen Grund für das Abgleiten von jungen, noch pubertierenden Frauen in den islamistischen Fundamentalismus, weder in der arabischen Welt noch bei uns in Europa, wo die Anziehungskraft von Ganzkörperschleiern ebenfalls Eltern in die Verzweiflung treibt. Regisseurin Kaouther Ben Hania umkreist psychologische Faktoren und nennt Einflüsse, die sich nur vor dem Hintergrund der jüngeren tunesischen Geschichte verstehen lassen. Aber vor allem überlässt sie sich einem therapieartigen Prozess, dessen Ergebnis niemand vorab wissen kann. Das ist spannend, berührend und überraschend zugleich.
Wir erfahren etwas über Olfas eigene Mutter, die ebenfalls alleinerziehend war und sich gegen die allgegenwärtige Gewalt der Männer wehren musste. Nach und nach zeichnen sich schädliche Beziehungsmuster ab, die unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die machistische Gewalt hinterlässt selbst dort Spuren, wo eine Frau wie Olfa Karate lernt und zurückschlägt. Das alles fließt zusammen und gebiert Einsichten: bei den Betroffenen, bei den Spielern und beim Publikum. Und wieder staunt man, wie harmonisch verschiedene Aspekte ineinander fließen: aktuelle Empfindungen, Erinnerungen beim Nachspielen und Erkenntnisse, die aus der Reibung beider Ebenen erwachsen. So entsteht ein komplexes, ebenso lebensbejahendes wie nachdenkliches Bild von Olfa und ihren beiden jüngeren Töchtern.
Betroffene und Schauspieler rekonstruieren in „Olfas Töchter“ die Geschichte einer fundamentalistischen Radikalisierung, die ihre Wurzeln auch in einem verfehlten Frauenbild hat. Regisseurin Kaouther Ben Hania experimentiert mit dokumentarischen und fiktiven Formaten nicht um des Experimentierens willen, sondern zeigt, wie sich die Wahrheit manchmal nur erschließen lässt, wenn man hinter die Oberfläche des Sichtbaren blickt.