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Elaha

Geschrieben von Peter Gutting am 9. Oktober 2023

Elaha (Bayan Layla) ist 22, aber sie sieht viel jünger aus. Fast noch wie ein Mädchen. Doch ein Mädchen im Sinne von Jungfräulichkeit ist die Deutsch-Kurdin nicht mehr. Und genau darin liegt das Problem. Denn in zwei Monaten soll sie Nasim (Armin Wahedi) heiraten, den Bruder ihrer Chefin in der Wäscherei, wo sie einen Mini-Job hat. Alle im deutsch-kurdischen Umfeld erwarten, dass eine Braut als Jungfrau in die Ehe geht. Und Elaha liebt ihre Familie und die kurdischen Traditionen, auch wenn sie nicht mit allem einverstanden ist und ein modernes Leben führt. Also sucht die selbstbewusste, freiheitsliebende junge Frau mit wachsender Verzweiflung nach Möglichkeiten, die Jungfräulichkeit, die sie übrigens nicht mit Nasim verloren hat, entweder vorzutäuschen oder mittels plastischer Chirurgie wieder herzustellen. Machbar wäre es, aber jede Lösung hat auch ihre Tücken im berührenden, bemerkenswert reifen Langfilmdebüt von Milena Aboyan.

Zwar klingt die Inhaltsangabe schwer nach Problemfilm, noch dazu bei einem Thema, das man im Westen seit den 1960er Jahren weitgehend hinter sich gelassen hat und nun nur noch den rückständischen muslimischen Gesellschaften zuschreibt. Aber eine solche Lesart führt in die Irre. „Elaha“ erzählt nicht von einer Symbolträgerin, sondern mit bewundernswerter Wahrhaftigkeit von der Suche nach einem selbstbestimmten Leben innerhalb patriarchalischer Strukturen. Regisseurin Milena Aboyan und ihr Drehbuch-Koautor Constantin Hatz loten mit großer Intensität innere und äußere Spannungen aus: Fremd- und Selbstwahrnehmungen, die nicht zueinander passen wollen, Erwartungen, Wünsche und Zwänge, mit denen alle Beteiligten klarkommen müssen, auch die Eltern und der Bräutigam, die keineswegs als bloße Unterdrücker gezeichnet werden. „Wir alle bewegen uns in einem Geflecht aus sozialen Kontakten“, sagt die Lehrerin in dem schulischen Kurs, den Elaha besucht, um sich auf Bewerbungsgespräche vorzubereiten oder vielleicht weiter zu machen bis zum Abitur. „Von klein auf hat uns ein Netz aus Eltern, Geschwistern und Freunden geprägt und schließlich zu dem geführt, was wir als Ich betrachten.“

Jede Sozialisation ist ganz konkret und bei jedem anders, auch bei denen, die durch ihren Migrationshintergrund mit zwei Kulturen konfrontiert sind. Sowohl die Regisseurin wie auch die Hauptdarstellerin kennen ein solches Leben aus eigener Erfahrung und Anschauung. Vielleicht ist das der Grund, warum sie so unverstellt und authentisch davon erzählen. Milena Aboyan wurde als jesidische Kurdin in Armenien geboren und kam zum Studium nach Deutschland. Schauspielerin Bayan Layla wuchs in Syrien auf und machte ihre ersten Bühnenerfahrungen in Leipzig. Sie scheint ihre Figur nicht zu spielen, sondern zu leben – mit staunenswerter Wandelbarkeit zwischen Fragilität und Kampfesmut.

Fast immer ist die Kamera von Christopher Behrmann bei ihr, in halbnahen und großen Einstellungen, ruhig und einfühlsam, nicht wertend oder neutral, sondern wie eine gute Freundin. Sie erkundet feinfühlig die Erwartungen von außen, die zu inneren Einstellungen geworden sind und im Konflikt stehen mit Freiheitsimpulsen. Im Gegensatz zu patriarchalischen Mustern, die Frauen wie Waren auf Gebrauchsspuren testen, stellt sich der Film solidarisch an deren Seite, macht sie auch nicht zu Opfern, sondern bewahrt und betont ihre Würde.

Sowohl zu Beginn wie auch am offenen Ende dreht Elaha sanft den Kopf und wirft einen eindringlichen Blick in die Kamera. Es wirkt so, als wollte sie sagen: „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Und: „Wie sieht es in deinem Leben aus?“. Regisseurin Milena Aboyan wollte unbedingt einfache Lösungen vermeiden, gerade auch die aus westlicher Sicht naheliegende, mit den Eltern zu brechen und auf die ganzen Traditionen zu pfeifen. Immer wieder besucht Elaha den ehemaligen Häftling Yusuf (Slavko Popadic), der eine Zeitlang denselben Eingliederungskurs besuchte wie sie. Zwischen den beiden gibt es eine schillernde Faszination und Seelenverwandtschaft, obwohl Yusuf sich für ein ganz anderes Leben entschieden hat. Er wohnt allein, hat außer Elaha keine Freunde. Nur Hunde sind seine Begleiter. Man kann Elaha und Yusuf als extreme Pole zwischen einem Kontinuum an menschlichen Möglichkeiten betrachten: entweder emotional stark eingebunden in die Herkunftsfamilie oder mit allen menschlichen Banden brechend. Schmerzlich ist beides.

Gedreht wurde „Elaha“ in einem relativ schmalen Format, das die Enge und Vereinzelung betont. Aber trotz gedämpfter Farben gerät das Selbstfindungsdrama nicht düster, sondern findet zu einer schönen Balance zwischen belastenden und hoffnungsvollen Szenen. Das macht „Elaha“ zu einem facettenreichen Porträt, nicht zu einem typischen Sozialdrama im Migrantenmilieu. Es zeigt einen komplexen, lebenshungrigen Charakter, der die kurdischen Hochzeiten ebenso feiert wie die Verschworenheit unter den modernen jungen Frauen, die wissen, wie man sich an den strikten Regeln vorbeimogelt. Immer wieder flicht die Regisseurin zärtliche Momente in die verzweifelte Lage ein. Etwa wenn Elaha sich auf den Schoß ihrer streng traditionalistischen Mutter (Derya Durmaz) schmiegt. Oder wenn der Vater (Nazmî Kirik) schweigend zu erkennen gibt, dass er seine Tochter versteht, auch wenn er ihr Verhalten offiziell nicht gutheißen darf. Wenn man hier überhaupt von Opfern sprechen will, dann sind es alle. Auch die Männer, die sich nicht vom patriarchalischen System lösen können.

„Elaha“ erzählt mit großer Einfühlungskraft von einer jungen Deutsch-Kurdin, die wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit ihre Jungfräulichkeit wiederherstellen oder vortäuschen möchte. Regisseurin Milena Aboyan macht in ihrem Debüt alles richtig und taucht in das Innenleben einer Frau ein und macht verständlich, was auf den ersten Blick überholt erscheint.

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Wir vergeben daher 8,0 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Camino Filmverleih, Kinescope Film

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Länge: 110min

Kategorie: Drama

Start: 23.11.2023

cinetastic.de Filmwertung: (8,0/10)

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Info

Elaha

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 110min
Kategorie: Drama
Start: 23.11.2023

Bewertung Film: (8,0/10)

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