„Keine Zeit für traurig“ verkündet die 32-jährige Johanna (Mareike Beykirch) in grammatikalisch unkorrektem Brandenburger Slang, als ihre geliebte Oma stirbt. Da geht es ihr ähnlich wie dem Rest der Familie, etwa Mutter Helga (Lina Wendel) oder Schwester Caro (Anja Schneider). Der Umgangston ist ruppig, Gefühle werden unterdrückt und brechen sich in einer ständigen Gereiztheit Bahn. Die Zeit scheint stillzustehen in der ostdeutschen Ortschaft sieben Jahre nach der Wende, ein ganzer Landstrich steckt in der Sackgasse. Nur ein Zufall entzündet wieder einen Funken Euphorie in Johanna, die als Praktikantin und Fotografin bei einem Lokalblatt arbeitet: Ihr gerät ein altes Nazi-Foto in die Hände, das sie zur ehemaligen KZ-Aufseherin Anneliese (Lore Stefanek) führt. Erstaunlicherweise ist die alte Dame sehr gesprächig, ein Knüller für die Zeitung liegt in der Luft. Doch dann brechen Parallelen zu Johannas eigener Familie auf und die emotionale Reise führt die junge Frau zur Konfrontation mit sich selbst.
Regisseurin Sylke Enders ist so etwas wie eine Spezialistin für zornige junge Frauen. Man denke nur an ihr Debüt „Kroko“ (2003), in der die halbkriminelle, hochnäsige 17-jährige Titelheldin Sozialstunden in einer Einrichtung für Behinderte leisten muss. Oder an das übergewichtige Mädchen aus „Schönefeld Boulevard“, das unter üblem Mobbing leidet. Wie unter dem Mikroskop sezierte die Autorenfilmerin in diesen beiden Arbeiten die Gefühlslage aus Unsicherheit, Kränkung, großer Klappe und Perspektivlosigkeit. Auch ihr aktueller Film ist nah an einem Leben, das dem titelgebenden Schlamassel alle Ehre macht. Die dokumentarische Handkamera heftet sich an die Fersen einer jungen Frau, die fast jedem in ihrem Umfeld auf die Nerven geht – und vielleicht am meisten sich selbst.
Und dennoch erzeugt der Film nach und nach so etwas wie Empathie mit der fahrigen, nervösen und schroffen Johanna. Eine Krise als solche mag nicht schön anzusehen sein, aber mit welcher Intensität die Theaterschauspielerin Mareike Beykirch die Zerrissenheit ihrer Figur auslotet, hat eine Magie, die der Echtheit entspringt. Wer weiß, was das Problem ist, kommt auch irgendwann wieder auf die Beine. Aber Johanna weiß genau das nicht. Sie fühlt sich irgendwie angezogen von der alten Frau, die scheinbar das Böse verkörpert, das den eigenen Aggressionen ein Ziel und eine Berechtigung verschafft. Hier scheint der Zweck die Mittel zu heiligen, als Journalistin selbst mit dunklen Methoden zu arbeiten, etwa mit heimlichen Tonbandaufnahmen oder versteckt geschossenen Fotos.
Eine Weile scheint der Film auf ein wohlbekanntes Muster zuzusteuern: Nazi-Täterin verharmlost ihre Schuld, verwickelt sich dann nach und nach in Widersprüche und wird am Ende der Lüge überführt. Aber Sylke Enders will auf etwas anderes hinaus. Das hat mit der Vorgeschichte ihrer Figur zu tun: Als Johannas eigener Großvater von seinem Enkel gefragt wurde, was er bei der Wehrmacht gemacht habe, war die Antwort eine Ohrfeige – sonst nichts. Im Vergleich damit ist das Redebedürfnis der KZ-Aufseherin ein Fortschritt. Und Johanna findet in der fremden Familie, deren Mitglieder ähnlich gefühlskalt miteinander umgehen, wie sie es aus ihrer eigenen Sippschaft kennt, einen Spiegel ihrer Probleme und Traumata.
Wie sehr die Vergangenheit gerade dann die Gegenwart lähmt, wenn sie verdrängt wird, ist neben dem innerpsychischen der gesellschaftliche Schlamassel, den der Film mit empathischen Beobachtungen und ohne vorschnelle Lösungen unter die Lupe nimmt. Auf die Dauer sind Blockaden und Stillstand aber nur bedingt kinotauglich, sodass sich die Tristesse über fast zwei Stunden zu sehr in die Länge zieht. Was das Interesse dennoch wach hält, ist das vielseitige Spiel von Hauptdarstellerin Mareike Beykirch, deren unverbrauchtes Kinogesicht immer einen Hauch Hoffnung mitschwingen lässt: Nach dem Durchschreiten eines tiefen Tals muss es doch irgendwann wieder aufwärts gehen.
„Schlamassel“ macht seinem Titel alle Ehre und erzählt von einer individuellen und gesellschaftlichen Sackgasse, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Mit seiner Echtheit, seinem Feingefühl und seiner faszinierenden Hauptdarstellerin hilft der neue Film von Sylke Enders über dramaturgische Längen hinweg.