Julio (Diego Cremonesi), Besitzer eines kleinen Schuhladens in Buenos Aires im Jahr 2001, will weg. Weg aus dem Land, das im Chaos versinkt. Weg von den immer schlechter gehenden Geschäften. Weg von korrupten Politikern und unfähigen Regierungen. Nach langem Warten sind endlich die Pässe für die Einwanderung nach Deutschland fertig: für ihn, seine 14jährige Tochter Paula (Violeta Narvay) und seine Mutter Dorothe (Regina Lamm). Alles ist bereit für die Abreise, wären da nicht Julios Liebe zur Musik und das Tango-Quintett, in dem der Mittvierziger Bandoneon spielt. Und wäre da nicht die ungestüme Taxifahrerin Mariela (Marina Bellati), die bei Rot über die Ampel rauscht. Durch ihre Schuld knallt Julios wunderschöner Peugeot 504 gegen einen Brückenpfeiler, mit dessen Verkauf der Ausreisewillige die Flugkarten nach Berlin finanzieren wollte. Unfallverursacherin Mariela ist nicht nur störrisch, sondern auch sonst recht temperamentvoll.
Die Stimmung ist nicht gerade rosig, als Julio mit seinen Musikerfreunden Atilio (Manuel Vicente), Tito (Rafael Spregelburd) und Carlos (Carlos Portaluppi) nach der Probe noch beim Kaffee in der Tango-Kneipe „Glorias Argentinas“ beisammensitzt. Der Sänger hat die Combo gerade verlassen, für Auftritte werden die Tangospieler nur noch in Naturalien bezahlt und der stets schlechte Nachrichten verkündende Wirt prophezeit den Untergang der Milchstraße. Doch dann macht einer das Radio an und ein magisches Licht durchströmt die kleine Bar. Es erklingt das Lied von der Leidenschaft („Pasional“), einer der Tangoklassiker, den jeder in dieser Stadt kennt. Für einen kurzen Moment ist die Trübsal wie weggeblasen, die Mienen hellen sich auf. Der gesungene Tango ist ein weiterer Hauptdarsteller im Spielfilmdebüt von Germán Kral. Seiner getanzten Version hatte der Regisseur, der zuvor im dokumentarischen Fach arbeitete, die wunderschöne Hommage „Ein letzter Tango“ (2015) gewidmet.
Dass dem Regisseur die argentinische Nationalmusik derart am Herzen liegt, ist verwunderlich und zugleich auch nicht. 1968 in Buenos geboren, zog Germán Kral 1991 nach Berlin, wo er Film studierte. Den Tango entdeckte er nach eigenem Bekenntnis erst in Deutschland. Die Musik ist aber vermutlich in seinen Genen verwurzelt, und das erklärt auch das Heim- und Fernweh, mit dem sich seine Filme dieser sehnsuchtsvollen Musik zuneigen, die zugleich etwas Tröstliches, bei allem Leid auch Lebensbejahendes ausstrahlt. Die Filmsprache nimmt diesen versöhnlichen Ton auf. Trotz des realen Chaos‘ im Land, trotz Hunger und Not setzen der Regisseur und seine Kameraleute Christian Cottet und Daniel Ortega auf satte Farben und warmes Licht. Es ist, als wollten sie die Schönheit von Buenos Aires und seiner Menschen feiern, ihre Überlebenskunst, ihre Beharrlichkeit und die kleinen Tricks am Rande der Legalität, mit denen sie sich über Wasser halten.
Kritische Betrachter würden vielleicht sagen, die Handlung sei nur um die Musik herumgebaut. Aber wahrscheinlich ist es umgekehrt: Nur wer die Liebe zum Tango so in seinem Innersten trägt wie Germán Kral, kann solche Charaktere entwerfen, so lebensecht, so differenziert und so von einer inneren Flamme befeuert, dass sogar ein müder Sänger im Altersheim seine alten Knochen noch einmal aufrafft und wieder auf die Bühne steigt, obwohl er den Text auch dann vergisst, wenn er ihn vor wenigen Sekunden noch einmal abgelesen hat.
Natürlich ist klar, dass eine derart romantische Liebeserklärung an eine Stadt und ihre Musik immer an der Grenze zum Kitsch entlangschrammen muss. Das weiß der Film. Er hält das Publikum wie jede kluge Screwball-Komödie genau dann weiter hin, wenn es längst zu wissen glaubt, was als nächstes passieren wird. Und wenn auch das nicht mehr hilft, macht der Musikfilm das Kitsch-Problem einfach zum Teil der Handlung. In dem Moment nämlich, als Julio nach langem Zögern Mariela endlich seine Liebe gesteht, und zwar über Taxi-Funk, empören sich zwei alte Damen auf der Rückbank des Autos darüber, wie sentimental das denn sei. Das hätten sie sich besser zwei Mal überlegt, denn die ebenso resolute wie glückliche Fahrerin setzt die meckernden Passagiere kurzerhand auf die Straße. Ein bisschen Romantik und Tangoliebe muss man halt schon mitbringen für diesem Film.
„Adiós Buenos Aires“ erzählt von der Auswandererwelle aus Argentinien während einer der schlimmsten Polit- und Wirtschaftskrisen des Landes im Jahr 2001. Vor allem aber bringt Dokumentarfilmer Germán Kral in seinem Spielfilmdebüt eine wundervoll romantische Hommage an den Tango und die Stadt Buenos Aires auf die Leinwand.