Aus dem Kinderzimmer heraus und direkt mit einer Rutsche in den Swimmingpool: Das ist keine spinnerte Idee von reichen Leuten, auch wenn es sich um eine indische Industriellenvilla handelt. Die ungewöhnliche Lösung entsprang der Fantasie der Kinder, die in diesem Haus leben sollten. Der indische Architekt Balkrishna Vithaldas (BV) Doshi hatte sie nach ihren Wünschen gefragt, als er einen Entwurf des berühmten Le Corbusier in die Praxis umsetzte. Schon früh wird hier das Arbeitsprinzip des Inders deutlich: Aus dem Leben heraus etwas schaffen und nicht den Leuten etwas abstrakt Ausgedachtes überstülpen. Am 24. Januar 2023 starb der Mann in Alter von 95 Jahren, der 2018 als erster Inder den renommierten Pritzker-Preis erhielt, eine Art Nobelpreis für Architekten. Zuvor hatte Dokumentarfilmer Jan Schmidt-Garre die Gelegenheit, mit einem der einflussreichsten Architekten der Gegenwart an die Stätten seiner prägendsten Gebäude zu fahren. Daraus wurde ein einfühlsames Porträt, in dem die Seelenverwandtschaft der beiden Künste, Film und Architektur sichtbar wird. Denn für Doshi bedeutet Baukunst auch das Erzählen einer Geschichte.
Eine Schule in Ahmedabad im indischen Bundesstaat Gujarat, dem Heimatort von Doshi: Der rüstige alte Mann sitzt am Zeichentisch und demonstriert der Kamera, wie er mit dem Entwurf des 1963 fertiggestellten Gebäudes begann. Er skizziert einen rechteckigen Kasten, eine ganz normale Schule. Wie abschreckend muss solch ein Klotz vor allem für die Kleinsten wirken? Also flacht er das Dach am Eingang ab. Und er verzichtet auf ewig lange Korridore. Stattdessen konzipiert er die Schule wie ein Dorf. In den kurzen Pausen laufen die Schüler zu einem anderen Haus, wo die nächste Stunde abgehalten wird. So kriegen sie beim Gehen ein Stück Natur mit: Vögel, Blumen, Wolken. Noch mehr Leben strömt in die Turnhalle, sie hat lediglich ein Dach, die Außenwände fehlen, bei den gegebenen klimatischen Bedingungen kein Problem.
Licht und Luft hereinlassen zählt zu den wichtigsten Prinzipien Doshis. Es spiegelt die Offenheit der Natur. „In Indien ist das Leben immer im Fluss“, sagt der Architekt, der nicht nur über Baukunst nachdenkt, sondern vor allem über die Menschen und ihre Bedürfnisse, die Erfordernisse des Daseins und die gegebenen lokalen Gegebenheiten. Daher benutzt er gern örtliches Material, wie zum Beispiel Ziegel. So wurde er zu einem Vorreiter ökologischen Bauens, lange bevor es diesen Begriff gab. Er weiß um die Hitze in Indien und richtet Gebäude so aus, dass sie keine elektrische Klimatisierung brauchen. Und er denkt in sozialen Kategorien. Schon als Grundschüler schrieb er in einem Aufsatz, er wolle Möbel entwerfen, die sich jedermann leisten kann. Daraus wurde – übersetzt ins Häuserbauen – das titelgebende Versprechen. Als er 1989 eine Sozialsiedlung in der Stadt Indore, plante, konzipierte er die einfachen Musterhäuser für die Armen so, dass die Bewohner sie jederzeit erweitern, ausbauen und ihren sich ändernden Bedürfnissen und Lebensverhältnissen anpassen können. Heute wohnen in dem Stadtteil 80 000 Menschen.
Regisseur Jan Schmidt-Garre folgt einem einfachen, aber ungeheuer wirkungsvollen Konzept. Beinahe chronologisch geht er mit Doshi dessen wichtige Projekte durch, lässt ihn Skizzen machen, Modelle verrücken, blendet Fotos von heute und früher dazwischen, geht schließlich mit Doshi an den Ort des Geschehens und spricht mit den Leuten, die heute dort wohnen oder arbeiten. Kameramann Diethard Prengel gießt das in ruhige, wohlkomponierte Bilder, die etwas von Doshis warmherzigem, freundlichem Wesen einfangen, von der Klarheit seiner Gedanken, von der Zugewandtheit dem Land und seinen Bewohnern gegenüber. Ebenso sehr wie ein Porträt seiner Bauten ist der Film ein Porträt seines Schöpfers geworden, eines sanften, für Versöhnung plädierenden Mannes. Dass er zugleich ein Requiem würde – Doshi starb kurz nach den Dreharbeiten – ist nicht zu erahnen. Einmal zeigt Jan Schmidt-Garre den Architekten bei der Meditation im Garten. Man darf die Geschmeidigkeit der alten Knochen bewundern, die noch immer den Yoga-Sitz schaffen.
Über das Porträt eines erstaunlich modernen und aktuellen Architekten hinaus zeichnet der Film zugleich das Bild eines Landes, in das sich der Regisseur nach eigener Auskunft schon vor zehn Jahren verliebte, als er seinen meditativen Film „Der atmende Gott“ (2002) über das moderne Yoga drehte. Immer wieder schaut die Kamera in die Gesichter der Leute, gruppiert sie zu eindrucksvollen Kompositionen, die sie vor „ihren“ Gebäuden zeigen. Auch wenn man Doshis Handschrift erkennt, etwa die Vorliebe für Tonnengewölbe und großzügige Balkone, so hat ihr Schöpfer doch längst sein Versprechen eingelöst. Und dem Land etwas gegeben, was lebt und sich verändert, statt bloß als Denkmal eines künstlerischen Ausdruckswillens in der Gegend zu stehen.
In „Das Versprechen – Architekt DV Doshi“ begleitet Dokumentarfilmer Jan Schmidt-Garre einen der bedeutendsten Architekten der Gegenwart an die Stätten seines Schaffens. Der einfühlsame Film zeichnet nicht nur das Porträt eines vitalen 95-Jährigen, sondern auch das seines Lebenswerkes sowie des Landes, in dessen Dienst er es stellte.