Krankheiten sind immer ein dankbares Filmthema. Sie bringen Konflikte, stellen die Helden vor Herausforderungen, wollen überwunden oder zumindest erträglich gestaltet werden. Damit das nicht nur lehrbuchartige Drehbuchtricks bleiben, ist es gut, wenn Regisseure die körperlichen und psychischen Einschränkungen aus nächster Nähe kennen. So war es beim Spielfilmdebüt der Hamburgerin Wendla Nölle. Ihre Mutter war an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. Was das für das Beziehungsleben bedeutet – darum dreht sich die (natürlich fiktive, aber mit Erfahrungen unterfütterte) Handlung ihres berührenden, genau beobachteten Ehedramas.
Juditha (Dagmar Manzel) und Erik (Rolf Lassgård) sind beide um die 60 und führen schon lange eine glückliche Ehe. Sie gehen zärtlich miteinander um und tanzen auch schon mal im Garten. Selbst nach all den Jahren geben sie einander Raum für Spontaneität und Überraschungen. Nicht alles, was sich der kurz vor der Pensionierung stehende Universitätsdozent Erik einfallen lässt, stößt allerdings bei Juditha auf Begeisterung. Zum Beispiel der Job, um den er sich nach dem Aus an der Uni bewirbt. Denn Juditha hat die Zeit von Eriks Ruhestand lange herbeigesehnt. Das hat nicht nur romantische Gründe. Die am Stock laufende Frau ist an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. Die dadurch bedingten körperlichen Einschränkungen werden mit den Jahren immer gravierender. Selbst wenn sie es leugnet: Allzu viel kriegt sie nicht mehr selbstständig hin. Und ob Erik die Pflege alleine stemmen kann oder will, muss sich erst noch herausstellen.
Morgens die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, ist normalerweise eine leichte Übung. Nicht so für Juditha. Mühsam schleppt sie sich aus dem Haus, ausgestattet mit einer Krücke, die zugleich als Greifarm dienen kann. Am Hals hängt eine Stofftasche. Dort könnte man das Nachrichtenblatt dann verstauen, wenn es sich denn tatsächlich aus dem Postkasten angeln ließe. Alles ist gut ausgetüftelt in Judithas kleinem Universum, die willensstarke Frau weiß sich zu helfen. Mit der langen Greifzange bekommt sie auch die Kaffeetasse aus dem oberen Hängeschrank der Küche unfallfrei zu fassen. „Lass‘ mich, ich kann das alleine“, gehört zu den beliebtesten Alltagsfloskeln der kranken Frau.
Regisseurin Wendla Nölle hat vor ihrem Spielfilmdebüt zwei Dokumentationen gedreht. Das merkt man ihrem Ehedrama an. Es ist alltagsnah inszeniert, mit einem Fokus auf genauer Beobachtung und viel Raum für die Schauspieler. Sehr genau zeichnet der Film einen weit verbreiteten Umgang mit schweren Krankheiten nach. Er seziert die Mechanismen von Verharmlosung, Verdrängung bis hin zu Verleugnung und schildert die Konsequenzen, die das auf enge Beziehungen hat, auf den Ehemann, aber auch auf Tochter Sarah (Anna Blomeier). Die MS-kranke Juditha zum Beispiel will sich partout nicht helfen lassen, nicht von einer Putzkraft, nicht von Bekannten, auch nicht von Sarah und nicht einmal von Erik. Sehr berührend und authentisch ist etwa die Szene, wenn Juditha bei einer Autofahrt so dringend auf die Toilette muss, dass sie ihr körperliches Bedürfnis keine Minute mehr aufschieben kann und Ehemann Erik sofort rechts ran fährt und sie beim Urinieren auf ihn angewiesen ist, während die Autos in Sichtnähe vorbeirauschen.
Vieles spielt sich in Haus und Garten ab in diesem Kammerspiel, das sich im Wesentlichen auf die beiden Hauptdarsteller konzentriert und ästhetisch unspektakulär daherkommt. Dagmar Manzel („Die Unsichtbare“) und Rolf Lassgård („Ein Mann namens Ove“) sind als Juditha und Erik eine starke Besetzung für das vertraute, seit Jahrzehnten eingespielte Paar. Sie lassen die Untertöne der zugewandten, liebevollen Kommunikation nuancenreich mitschwingen: das unausgesprochene Klammern der kranken Frau, die leise, nicht eingestandene Kränkung, wenn Erik das Haus verlässt, aber auch die stille Verzweiflung des Ehemanns, wenn Juditha sich einmal mehr nicht helfen lässt und sich die Lage immer mehr zuspitzt.
Bis in die Haarspitzen sind bei beiden Darstellern die wechselseitigen Abhängigkeiten spürbar, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben und nun zu einer beklemmenden Enge führen. Das Abschnüren der Luft reicht bis in den Kinosaal, so beklemmend fangen Darsteller und Kamera (Nikolai von Graevenitz) die sich zuspitzende Krise und ihre körperlichen Symptome ein. Ein Wohlfühlfilm sieht natürlich anders aus, aber gerade das Durchdeklinieren sämtlicher Verdrängungsmechanismen bietet auch Hoffnung. Nämlich dann, wenn der Tiefpunkt durchschritten ist, die Wahrheit auf dem Tisch liegt und es nur noch aufwärts gehen kann.
„Ein großes Versprechen“ erzählt von einem glücklich gealterten Paar, das durch eine heimtückische Krankheit in einen Abwärtsstrudel gerissen wird. Der genau beobachtete Film tut das, was im wirklichem Leben so schwer ist: der Wahrheit ins Auge schauen.