Liebhabern klassischer Musik ist es vielleicht nicht bewusst – aber sie sind auf dem Gender-Auge blind. 98 Prozent aller Stücke, die bei Konzerten gespielt werden, stammen von Männern. Die Pianistin Kyra Steckeweh und der Filmemacher Tim van Beveren zählen zu jenen, die das ändern möchten. 2018 brachten sie ihr gemeinsames Regiedebüt „Komponistinnen“ ins Kino, eine Dokumentation über Fanny Hensel, Emilie Mayer, Mel Bonis und Lili Boulanger. Nun widmen sie sich dem filmreifen Leben und der Musik von Dora Pejačević (1885-1923), die in ihrem Drang nach Freiheit, ihrer Liebe zu Frauen wie Männern und ihrer bewegten Biografie in einer Zeit des Umbruchs nicht aufs musikhistorische Abstellgleis gehört, sondern höchst moderne Fragen anklingen lässt. Und nach Ansicht von Kyra Steckeweh unbedingt zum Repertoire klassischer Konzerte zählen sollte, genauso wie Brahms, Mahler, Rachmaninow und all die anderen Herren der Komposition.
Frage an Musiker des renommierten Gewandhausorchesters Leipzig, das gerade die Symphonie in fis-Moll von Dora Pejačević einstudiert: „Kannten Sie die Komponistin zuvor?“ Alle schütteln den Kopf, der Trompeter, die Englisch-Hornistin, der Konzertmeister. Und das, obwohl die Frühbegabte zu Lebzeiten keineswegs im stillen Musikkämmerlein vor sich hinschrieb, sondern über ihre Heimat Kroatien hinaus bekannt war, nicht etwa als Imitatorin der Spätromantiker, von denen sie inspiriert wurde, sondern als unverwechselbare Stimme. Ihre Werke – insgesamt 57 – wurden gedruckt und auf Konzerten gespielt, sie pflegte Kontakte zu Publizisten und Dichtern wie Karl Kraus und Rainer Maria Rilke. Doch nach ihrem viel zu frühen Tod im Alter von 37 Jahren wurde es still um die kreative Tochter einer Adelsfamilie, die mit ihrer Klasse haderte und sich von Konventionen wie der klassischen Frauenrolle nicht einengen lassen wollte. Nur in Kroatien wird ihr Andenken hochgehalten. Die Musikwissenschaftlerin Koraljka Kos, die auch im Film zu sehen ist, schrieb schon 1982 eine Monographie über ihre Landsfrau, es gibt einen Spielfilm über sie und eine Roman-Biografie.
Man könnte die kroatische Gräfin für ein Glückskind halten, wenn man sieht, wie großzügig die Eltern ihre musikalische Bildung förderten, mit Aufenthalten in Dresden und München. Wenn man erlebt, wie weit sie reiste (zu den Pyramiden nach Ägypten) und welch umfassende literarische und philosophische Kenntnisse sie sich aneignen durfte. Aber schon früh mischten sich tragische Töne in das Leben der Hochbegabten. Der Geliebte stirbt, die Beziehung zur Mutter ist gestört, innige Freundschaften zu Frauen werden eifersüchtig von Männern beäugt.
Zudem bringt der Erste Weltkrieg eine Epoche zum Einsturz, von der nicht nur Stefan Zweig dachte, sie sei ein „goldenes Zeitalter der Sicherheit“ (wie vor dem 24. Februar 2022 im modernen Europa). Nachdem der Gräfin lange nicht nach Ehe zumute war, heiratet sie 1921 den Offizier Ottomar von Lumbe, nicht nur aus Liebe, sondern auch aus einem Bedürfnis nach Sicherheit, wie ihre Biografin Koraljka Kos mutmaßt. Die damals gefährliche Spätgeburt des Sohnes kostet der Mutter das Leben.
Die Dokumentarfilmer Kyra Steckeweh und Tim van Beveren haben sich, das ist deutlich zu spüren, in diese Frau verliebt, über die sie vier Jahre lang intensiv recherchiert haben: in Archiven, bei Reisen zu den Stationen ihres Lebens (zu denen sie das Publikum mitnehmen), in der Aneignung ihrer Musik. Eine der Sonaten für Klavier hat es Kyra Steckeweh besonders angetan, sie nennt sie ihr Lieblingsstück und lässt das Publikum ausführlich hören, warum. Die unmittelbare, absolut ehrliche Emotionalität, die von inneren Krisen, tiefen Empfindungen und Sehnsüchten erzähle, habe sie in dieser Form noch bei keinem anderen klassischen Komponisten gefunden, erzählt die Regisseurin.
In solchen Momenten verstecken sich die Filmemacher ganz bewusst nicht hinter einer falsch verstandenen Objektivität. Sie machen deutlich, wie sie bestimmte Entwicklungen aktiv anstoßen, etwa das erwähnte Konzert des Gewandhausorchesters, und wie sie sogar Forschungslücken schließen, indem sie den Enkel von Dora Pejačević aufspüren und bei ihm eine Schublade mit Briefen und nicht entwickelten Negativen einsehen dürfen, die ein helles Licht auf die bislang im Dunklen liegenden letzten Lebensjahre der Künstlerin werfen.
Bei aller Subjektivität hat die sorgsam rhythmisierte und nicht mit Informationen überladene Dokumentation auch den Charakter eines Lehrfilms. Stets tritt das Informations- und Aufklärungsbedürfnis hinter ambitioniertere formale Lösungen zurück, die ebenfalls möglich gewesen wären. „Dora – Flucht in die Musik“ kommt klar strukturiert und streng chronologisch daher, sodass der Film in einer kürzeren Fassung auch als Einführung vor einem Konzert oder im Rahmen einer Ausstellung denkbar wäre. Man mag den didaktischen Charakter etwas altmodisch finden. Aber er dient dem guten Zweck, eine zu Unrecht Vergessene zurück ins Rampenlicht der Konzertsäle zu holen. Gleichberechtigung sollte schließlich auch vor der klassischen Musik nicht Halt machen.
Die kroatische Adlige Dora Pejačević (1885-1923) war einmal eine europaweit bekannte Komponistin. Doch nach ihrem viel zu frühen Tod im Alter von 37 Jahren geriet ihr Werk in Vergessenheit – ein Schicksal, das sie mit vielen komponierenden Frauen teilt. In ihrer Doku verneigen sich Kyra Steckeweh und Tim van Beveren vor ein zu Unrecht Vergessenen, deren Leben nicht nur musikalisch ihrer Zeit voraus war.