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Interview mit Vera Brückner zu „Sorry, Genosse“

Geschrieben von Peter Gutting am 30. Januar 2023

In ihrem Abschlussfilm dokumentiert Regisseurin Vera Brückner eine Liebesgeschichte in den Wirren der deutschen Teilung. Hedi und Karl-Heinz stammen beide aus dem thüringischen Oberellen, das zur Zeit des Kalten Krieges in der damaligen DDR lag. Aber während Karl-Heinz‘ Eltern noch vor dem Mauerbau in den Westen gingen, blieb Hedis Familie dort. Bei einem Familientreffen in Oberellen sehen sich die beiden als Jugendliche zum ersten Mal. Es funkt, obwohl zunächst nur eine Brieffreundschaft möglich ist. Nachdem viele Versuche, miteinander zu leben, gescheitert sind, bleibt nur Hedis abenteuerliche Flucht in den Westen. Vera Brückner erzählt davon humorvoll und verspielt, in einem Hybrid aus Doku und Spielfilm, der auch Animationen und nachgespielte Szenen in den Dienst einer packenden, auch für junge Menschen von heute interessanten Kino-Unterhaltung stellt. Aus Anlass des Filmstarts sprachen wir mit Vera Brückner über Wissenslücken zur deutschen Teilung, über Anleihen beim Spielfilm und die Rolle des Humors in einer Doku.

Sie schreiben in Ihrem Regie-Kommentar, dass Sie 1988 geboren sind, also ein Jahr vor dem Mauerfall, und dass lange Jahre das Kürzel „DDR“ in Ihrem Wortschatz gar nicht vorkam. Wann ist dann trotzdem ein Bezug zur Geschichte der deutschen Teilung gewachsen?

Ich hatte auf dem Gymnasium Geschichte im Leistungskurs. Damals schrieb ich eine Facharbeit über die „Freie Deutsche Jugend (FDJ)“, also die staatlich geförderte kommunistische Jugendorganisation in der DDR. Es gab schon davor ein Interesse und irgendwann habe ich auch die alten Geschichten meiner Großmutter verstanden, die ich als Kind noch nicht begreifen konnte, dass sie nämlich auch aus der DDR geflohen ist, allerdings schon ganz früh, noch vor dem Mauerbau. Ich habe mich immer wieder mit der DDR beschäftigt, obwohl wir in der Schule sehr wenig darüber erfahren haben. Ich bekomme aus meiner Generation und auch von Leuten, die zehn oder 20 Jahre älter sind, die Rückmeldung, dass sie zu wenig über die deutsche Teilung wissen und sich wundern, was sie in meinem Film alles erfahren.

Die erste Anregung für den Film kam von Karl-Heinz, dem Vater Ihres damaligen Freundes, der bei einem familiären Treffen mal die Bemerkung fallen ließ, dass seine Stasi-Akte ein filmreifer Stoff sei. Bestand dadurch die Gefahr, dass er die Ausrichtung des Films dominierte oder konnten Sie den Film frei nach Ihren Vorstellungen gestalten, ohne Einflussnahme von außen?

Die Bemerkung, auf die Sie sich beziehen, war absolut beiläufig und sogar ein wenig scherzhaft gemeint. Beide, sowohl Karl-Heinz wie auch Hedi, waren nicht scharf darauf, dass ihre Liebesgeschichte in einem Film aufgearbeitet wird. Sie haben ein tolles Leben und wissen viel mit ihrer Zeit anzufangen. Als ich den Stoff anging, erzählte ich Ihnen, wie ich den Film gern machen wollte. Ich schrieb auch ein ausgefeiltes Drehbuch, was man beim Dokumentarfilm eher selten braucht. Aber hier erwies es sich als sehr sinnvoll, weil die Geschichte so lange her und auch so umfangreich ist. Das Verschriftlichen macht klar, welche wichtigen Momente im Film abgedeckt werden müssen und was außen vor bleiben kann. Außerdem hat der Film eine humoristische Machart. So etwas braucht Planung im Vorhinein. Karl-Heinz und Hedi waren manchmal verblüfft, wenn sie hörten, was ich vorhatte. Aber sie ließen mir große Freiheit und ich konnte den Film so gestalten, wie ich wollte. Hinzu kommt, dass sie nicht zu den eitlen Protagonisten zählen, die man manchmal hat und die sich in den Vordergrund drängen. Sie waren zu Beginn eher etwas schüchtern und wuchsen erst im Lauf der Arbeit in ihre Rolle hinein.

Der Film fängt ja auch intim an.

Der vordere Teil dreht sich um private Gefühle, da ist man vielleicht vorsichtiger, was man davon der Öffentlichkeit mitteilt. Die Flucht hingegen ergibt eine gute Geschichte, die man auch gern mal beim Abendessen seinen Freunden erzählt. Das hat einen anderen Charakter und sie wurden gegen Ende noch bessere Erzähler, machten also eine Entwicklung durch, was das angeht.

Auf den ersten Blick ist die Geschichte etwas fürs Familienalbum. Sie geben dem Ganzen aber einen universellen Charakter. Ab wann war Ihnen klar, dass da etwas drinsteckt, was viele Menschen interessieren könnte?

Eigentlich von Anfang an. Es gibt ja eine Menge Fluchtgeschichten, ganz im Allgemeinen und auch solche über die deutsche Grenze. Deswegen war mir klar, dass viele Leute ein Interesse daran haben werden und vielleicht auch ein Stück aus ihrer eigenen Geschichte darin wiedererkennen. Dazu kommt, dass die Anwerbung zum Spion, die die Stasi bei Karl-Heinz versuchte, immer Neugier erweckt. Und man weiß natürlich, dass Liebesgeschichten gern gesehen werden. Es spielt auch so etwas Bonnie-and-Clyde-Mäßiges hinein: Schaffen sie es, die anderen hinters Licht zu führen? Sehr toll fand ich außerdem die Zeithistorie. Wenn Karl-Heinz von seinem Studium in Frankfurt am Main während der studentenbewegten Zeit erzählt, muss man bedenken, dass es einmal eine gesellschaftliche Alternative zur BRD gab, direkt nebenan. Wie sich das anfühlte, kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wenn man nicht dabei war. Trotzdem oder gerade deshalb ist diese Zeit auch für jüngere Menschen interessant.

Sie helfen der Kinotauglichkeit durch die Entscheidung nach, daraus eine Komödie zu machen. War Ihnen beim Drehbuchschreiben von Anfang an klar, dass Sie dem Stoff eine humoristische Form geben werden?

Ich mache in der Regel unterhaltende und lustige Filme. Gerade der Dokumentarfilm darf das auch mal. Ich habe versucht, mit filmischen Mitteln den Humor aus dem durchaus auch ernsten Stoff herauszukitzeln. Denn die Geschichte ist 50 Jahre her und dadurch hat der Blick meiner Protagonisten eine gewisse Distanz dazu. Außerdem ist ihnen damals nichts wirklich Schlimmes passiert. Keiner ist gestorben, keiner hat sich schwer verletzt und keiner musste ins Gefängnis. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich den Film nicht auf diese Weise gemacht. Aber ich finde es toll, wenn ein Dokumentarfilm auch einmal so leichtfüßig sein und auch Muster des Spielfilms zitieren darf.

Für mein Empfinden sind Sie richtig tief in das antiautoritäre und revolutionäre Zeitgefühl der späten 1960er und der 1970er Jahre eingetaucht sind. Gab es Ankerpunkte in Ihrem eigenen Leben, die Ihnen halfen, an diese Zeit anzudocken, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann?

Ich habe viel recherchiert. Ich habe mit Karl-Heinz und Hedi sowie mit anderen Leuten gesprochen, Filme gesichtet, Bücher gelesen, mich mit den Nachrichten von damals befasst. Im Prinzip sind drei bis vier Jahre Recherche in den Film eingeflossen. Monatelang habe ich allein die Stasi-Akte über Karl-Heinz gelesen, und natürlich auch Hedis Akte. Ich war neugierig darauf, dass es einmal eine Zeit gab, in der der Kapitalismus derart heftig kritisiert wurde – und auch darauf, was Quatsch war an den Ideen von damals, etwa die Zersplitterung der Bewegung in diverse K-Gruppen. Ich habe mich mit vielen Dingen befasst, die gar nicht im Film sind. Es wäre zwar schön gewesen, wenn noch mehr davon hätte auftauchen können. Aber es war dem dramaturgischen Bedarf des Films geschuldet, dass ich diese Inhalte stutzen musste. Es ist eben eine Liebesgeschichte. Die Liebe ist der rote Faden, sie motiviert die Flucht. Ich freue mich aber, wenn jemand, der damals gelebt hat, mit meiner Darstellung des Zeitgeistes der 1970er etwas anfangen kann.

Beim Eintauchen hilft die Musik. Die ersten Akkorde des Soundtracks stammen von dem Song „Der Traum ist aus“ von der Rockband „Ton Steine Scherben“, sozusagen der Hymne dieser Generation von Karl-Heinz und Hedi. Man hört aber nicht Rio Reiser. Wer singt da?

Das ist gecovert. Der Song und die ganze Platte von „Ton Steine Scherben“ hatte einen großen Stellenwert für Karl-Heinz und dann auch für Hedi zu dieser Zeit. Ich fand es schön, eine junge Band zu finden, die die Songs durch ihre Interpretation ins Heute transportiert und vielleicht auch die restliche Filmmusik übernimmt, sodass alles aus einem Guss ist. Es war ein Glück, Florian Paul und drei Musiker von der Band „Florian Paul & Die Kapelle der letzten Hoffnung“ zu treffen. Sie sind alle studierte Filmmusiker und hatten die Qualität, eine Band zu sein und dazu noch einen Musikscore schreiben zu können. Wir haben dann die Erben von Rio Reiser kontaktiert und einen Brief geschrieben, ob wir die Songs für wenig Geld covern dürfen. Anders wäre es bei dem knappen Budget eines Hochschulabschlussfilms nicht gegangen. Es war ein spannender Prozess, den Film auch musikalisch zu denken. Zu Beginn ist er rockiger und versucht den Zeitgeist der 1970er einzufangen. Im Fluchtteil gehen wir dann in Richtung Jazz oder Gypsy und spielen mit ganz anderen Klängen.

Man hat den Eindruck, dass der Film den Protagonisten sehr viel Spaß gemacht hat. Hatten Sie selber genauso viel Freude oder gab es auch Durststrecken?

Wir haben in zwei Etappen gedreht. Die erste lag im Sommer und fiel leider genau in die Corona-Zeit. Der zweite Dreh hätte eigentlich in Rumänien stattfinden sollen. Das ging aber wegen Corona nicht, weil dort die Fallzahlen so hoch waren, dass ich das mit zwei fast 70-Jährigen nicht riskieren wollte. Der erste Dreh war sicher auch eine Findungsphase, weil die beiden kaum Berührungen mit der Filmwelt hatten. Drei Wochen mit einem kleinen Filmteam im Bus durch Deutschland zu reisen, war aufregend und manchmal auch anstrengend. Ich glaube, sie hatten viel Spaß am Kontakt mit uns jungen Leuten. Aber es war sicher auch berührend und aufwühlend, sich so intensiv mit der eigenen Vergangenheit zu befassen. Das hätten beide nicht von sich aus angestrebt. Karl-Heinz hat ja alle Briefe, die er noch hatte, eingelesen und mir geschickt. Das war für ihn, glaube ich, interessant, aber auch erschreckend und dann wieder witzig, sich selber als jungem Mann wieder zu begegnen.

Es sind ja auch tiefe Gefühle im Spiel.

Für beide ist das die große Liebe. Sie haben jeder für sich danach eine zweite große Liebe gefunden, aber die Dreharbeiten haben die Beziehung zwischen ihnen noch einmal verändert und auf eine andere Ebene gehoben.

Wo fand der zweite Drehblock statt?

Im „Parkhotel 1970“ in der Nähe von Frankfurt. Dieses Hotel wurde in den 1970er Jahren geschlossen und jetzt wieder aufgemacht. Seine Besonderheit ist, dass es quasi in der Zeit stehengeblieben ist und authentisch die 70er spiegelt, von Möbeln über Lampen bis hin zu Zeitschriften. Dieser Dreh war dann wie eine Art Klassentreffen. Alle kannten sich schon und freuten sich, noch einmal zusammen zu kommen. Ich finde, das merkt man dem Film an. Da waren die Protagonisten wirklich gut vorbereitet und haben sich überlegt, wie sie ihre Gefühle und ihre Erinnerungen vermitteln.

Sie sprechen gerade das Inszenieren von Szenen an. Wie würden sie die Gattung Ihres Films bezeichnen? Als Mischung aus Doku und Fiktion?

Wir zitieren natürlich Spielfilme und sind sehr spielerisch, es gibt Kartenmaterial und Studio-Atmosphäre. Aber mir ist wichtig, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Die Inhalte sind real, da ist nichts hinzugedichtet. Ich würde sagen, es ist ein Dokumentarfilm hybriden Charakters. Natürlich inszenieren wir an bestimmten Stellen, aber es entspricht alles der Wahrheit. Wenn es nicht so wäre, hätte ich das klar gekennzeichnet. In einem solchen Fall müsste man in den Vorspann so etwas wie „nach einer wahren Begebenheit“ schreiben.

Arbeiten Sie an einem neuen Projekt?

Ich arbeite an einem Musikdokumentarfilm, für den es schon Förderung und Senderbeteiligung gibt. Wir haben auch bereits gedreht und es geht um Florian Paul, den Musiker, über den ich gerade gesprochen habe. Ich war im Mai letzten Jahres auf einem Konzert von ihm und da merkte ich, dass ich es spannend finde, hinter die Kulissen des Musikerlebens zu blicken. Wie geht seine musikalische Entwicklung weiter? Wie erfolgreich wird er mit den Sachen, die er jetzt macht? Es gibt erste Hinweise, dass seine Karriere noch größer werden könnte als sie jetzt schon ist. Im Prinzip wird das ein beobachtender Dokumentarfilm. Aber er wird sicher auch unterhaltsam und es wird inszenierte Elemente geben. Damit meine ich, dass er sich als Künstler selber inszeniert und kreativ ist, dass er Filme macht und Gedichte schreibt. Ich will spielerisch damit umgehen, dass jemand genauso wie ich weiß, welche filmischen Mittel es gibt.

 

Zur Person

Vera Brückner wurde 1988 in München geboren, wo sie auch heute noch lebt und arbeitet. Ihr dokumentarisches Interesse eröffnete ihr Aufenthalte in den USA, Japan, Lettland, Russland und der Türkei. 2012 schloss sie ihr erstes Studium mit einem Bachelor an der Hochschule München im Bereich Fotodesign ab. An der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) München erhielt sie 2021 ihr Diplom in der Abteilung Dokumentarfilmregie und Fernsehpublizistik. Zahlreiche internationale Festivals zeigten ihre Arbeiten, u.a. die Berlinale, DOK Leipzig, Dok.FEST München und  Cannes Short Film Corner. Ihre Filme erhielten zahlreiche Auszeichnungen, zum Beispiel die Honorary Mention auf dem DOK Leipzig (German Shorts) oder den FFF-Förderpreis.

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Interview mit Vera Brückner zu „Sorry, Genosse“

Geschrieben von Peter Gutting

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Start: 01.01.1970