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Interview mit Charly Hübner zu „Mittagsstunde“

Geschrieben von Peter Gutting am 19. September 2022

In seiner Jugend war Charly Hübner einmal ein viel versprechender Leichtathlet. In der DDR, in der er aufwuchs, hätte er durchaus Profi-Sportler werden können, wenn der Körper dauerhaft mitgespielt hätte. Aber dann packte ihn die Schauspielerei, die er anfangs, in seiner Zeit beim Laientheater, gar nicht für einen Beruf hielt. Zum Glück für Film und Fernsehen gönnte er sich 2003 eine Pause von den großen Bühnen in Berlin bzw. Frankfurt und probierte es mit der Arbeit für die Kamera. In der Romanverfilmung „Mittagstunde“ von Lars Jessen spielt er die Hauptrolle des Ingwer Feddersen. Der Mann ist ein Kind kleiner Leute, schaffte es aber aufs Gymnasium und gerät nun als Hochschuldozent in die Midlife-Krise. Er nimmt sich ein Sabbat-Jahr, um zurück in das fiktive friesische Dorf „Brinkebüll“ zu ziehen. Dort kommen die „Alten“, ein Gastwirtsehepaar, nicht mehr ohne Hilfe klar. Für Ingwer wird die Seniorenpflege zur Reise in die Erinnerung und zur einer Art Selbstfindungsprozess. Aus Anlass des Filmstarts sprachen wir mit Charly Hübner über die Unterschiede zwischen Roman und Drehbuch, seine Gespräche mit Dörte Hansen und die schauspielerischen Techniken, die ihm halfen, in seine Figur hineinzuschlüpfen.

Kanntest du zuerst den Roman oder das Drehbuch?

Ich habe erst das Drehbuch gelesen. Und natürlich schaue ich dann auch in das Prosa-Werk, wenn es eines gibt. Ich war sehr überrascht über die Unterschiedlichkeit. Im Roman von Dörte Hansen geht es um eine Verschmelzung von Impulsen und um einen Erzählteppich, in dem sich die heutige und die vergangene Geschichte verweben. Man befindet sich dort quasi in einem Redekreislauf und die Handlung läuft auf der dritten Ebene mit. Für den Film war aber klar, dass wir ein Handlungsgerüst schaffen müssen, das den Sehgewohnheiten entgegenkommt und auch den Takt vorgibt, wo der Film hinwill. Ich war überrascht, zu welch frühem Zeitpunkt Drehbuchautorin Catharina Junk es schon geschafft hatte, dieses Gerüst zu zimmern. Die eigentliche Handlungsebene ist ganz einfach: Ein Mann um die 50 geht zurück, um seinen Eltern beim Altwerden zu helfen, und stößt dabei in einem ganz inneren Vorgang auf sein Leben. Dieses Innenleben ist fast das Gegenteil dessen, was Film ausmacht. Das fand ich auf mehreren Ebenen einladend als eine Herausforderung. Deswegen wollte ich das spielen.

Regisseur Lars Jessen sagt, dass er dich sofort für die Rolle des Ingwer im Kopf hatte. Wie seid ihr dann zusammengekommen?

Wir kennen uns seit 20 Jahren. Seit ich Filme machen darf, war Lars einer der ersten Regisseure, mit dem ich zusammengearbeitet habe, damals zuerst fürs Fernsehen. Wir haben uns auf verschiedenen Ebenen immer wieder getroffen. Er ist ja auch Produzent meiner Doku „Wildes Herz“ über die Punkband „Feine Sahne Fischfilet“. Als er mir sagte, das könne nur ich spielen, wusste ich nicht, was er meinte. Denn das ist nicht meine Sicht auf mich als Spieler. Ich habe aber auch nicht nachgefragt, weil mich das unter Druck gesetzt hätte. Ich fand einfach toll, dass es sich um eine Anti-Figur handelt. Alles, was Handlung, Rede oder virtuose Momente sind, muss nach innen verlegt werden. Dadurch kriegt die Figur im Idealfall eine eigene Aura. Deshalb sagte ich zu Lars: „Lass‘ machen“.

Hast du dich auch mit Dörte Hansen getroffen?

Wir haben uns im Vorfeld zwei Mal gesehen. Das erste Mal, um den Humor im Film zu verankern. Dörte pflegt im Roman einen liebevoll ironischen Tonfall. Im Film bräuchtest du dafür einen Off-Erzähler. Und es gab auch Überlegungen, ob man die Figur Heiko die Geschichte erzählen lässt oder sogar Dörte selbst. Aber dann hätte man die Kargheit der Erzählung aufgeweicht, denn es ist ja kein Sprechfilm. Somit war klar, wir müssen es anders lösen, mit schauspielerischen und filmischen Mitteln. Darüber haben wir beim ersten Mal gesprochen. Das zweite Mal haben wir lange über Ingwer geplaudert, weil mir diese Art der Universitätskarriere in der ehemaligen BRD völlig fremd ist. Nicht nur, weil es um Schleswig-Holstein geht, sondern auch der ganze Alltag dieser Art von Bürgertum ist anders als ich es kenne. Alles ist härter, auch die Sprache. Dahin hat Dörte mich gut geführt. Zum Glück hat sie außerdem alle plattdeutschen Dialoge eingesprochen. Das friesische Platt ist viel schneller als unser mecklenburgisches Platt. Das war eine extreme Hilfe beim Drehen, jeden Morgen nochmal Dörte Hansen zu hören und ihr nachzusprechen.

Du hast schon gesagt, dein Ingwer spricht nicht viel. Er ist kein Macher-Typ, sondern ein Beobachter und oft auch ein Erdulder. Wie spielt man jemanden, der wenig sagt und das meiste über seinen Blick, seine Mimik und seine Körpersprache ausdrücken muss?

Ich hatte früh den Eindruck, dass wir zu Verabredungen kommen müssen. Aber nicht zwischen den Schauspielern, sondern mit dem Schnitt und mit der Kamera. In den Szenen, die ich spiele, gibt es emotionale Aufladungen durch das, was vorher passiert und durch das, was nachher passiert. Kameramann Kristian Leschner, Lars Jessen und ich haben ein halbes Jahr vor Dreh angefangen, uns zu treffen, um zu schauen, wo guckt Ingwer in seine Erinnerungen hinein und wo ist die Erinnerung in ihm und spült sozusagen die Emotionen für die Szene danach in die Kamera. Dadurch haben wir quasi eine Linie von Punkten gebaut, die dem Schnitt ein Gerüst gibt. Dadurch kannst du beim Dreh der Szene frei fliegen und weißt trotzdem, am Ende der Verabredung gibt es ein Haltefenster. Bei einer Figur wie Ingwer sind die Emotionen in einem selbst total unberechenbar, denn er ist zwar höchst emotional, zeigt es aber nicht. Darin ist die Ingwer-Arbeit anders als die an anderen Rollen.

Ich habe gelesen, dass du gerne Figuren spielst, die ganz anders sind als du selber. Aber es scheint, als sei Ingwer nah an dir dran. Deine Eltern hatten eine Gastwirtschaft, du kommst auch aus einem Dorf im Norden, wo die Menschen schweigsam sind und ein anderes Naturell haben als im Süden. Ist dir die Rolle eher nah oder eher fern?

Ich verstehe den Vergleich, aber die Gastwirtschaft, aus der ich komme, ist eine Hotel-Welt. Und das Hotel steht auch nicht im Dorf, sondern allein im Wald. Das war eine Insel, wo Menschen aus verschiedensten Milieus aufeinander trafen, nicht nur die Dorfgemeinschaft. Noch größer aber ist der Unterschied im Naturell. Ich bin ein unruhiger Mensch, hänge mich schnell aus dem Fenster und galoppiere auch gern mal in eine falsche Richtung. Die Ängste und Hemmungen, die Ingwer hat, kenne ich von mir nicht. Insofern war es ein Aufbruch in eine mir ferne Figur. Hilfreich war, dass wir die früheren Zeitebenen auch früher gedreht haben. Ich durfte mir die Szenen mit Lennard Conrad, der den Ingwer als Kind spielt, anschauen und hatte Freude daran, von ihm Sachen zu übernehmen. Das ist, wie wenn man sich mit einer Maske befasst, statt alles aus dem Psychodrama heraus zu spielen. Nach meiner Ansicht muss der Film auch in seiner Traurigkeit eine große Leichtigkeit behalten. Wenn man sich die Figur wie eine Maske betrachtet, steigt man wie ein Clown in sie hinein, um sie dann dokumentarisch zu behandeln, rein schauspieltechnisch gesprochen.

Der Film erzählt auch von einem gesellschaftlichen Wandel, etwa von der Industrialisierung der Landwirtschaft, die nicht nur Wohlstand bringt, sondern Verluste im Gemeinschaftsleben. Man trifft sich eben nicht mehr wie früher in der Dorfkneipe. Die Kinder dürfen nicht mehr unbefangen auf der Straße spielen, weil sie sonst totgefahren werden. Spürst du solche Verluste auch, wenn du in dein mecklenburgisches Heimatdorf fährst?

In der DDR gestaltete sich das anders. Es gibt einen Riss zwischen der Dorfkultur vor dem Zweiten Weltkrieg und der danach, einfach durch die Vorgaben der Sowjets. Die Bauern waren nicht mehr Herren ihrer Felder, es gab die LPG. Ich selber bin kein nostalgischer Mensch. Ich finde für mich immer Gründe, warum Dinge verschwinden. Ich kann aber genauso gut nachempfinden, warum eine Wehmut bleibt. Es gibt die Sehnsucht, dass Menschen das Nest, das ihnen Ruhe schenkt, behalten wollen, so wie es ist. Das kann ich total nachvollziehen. Trotzdem hat mich das Leben gelehrt, dass jedes Nest irgendwann neue Äste braucht, weil es ansonsten auseinanderfällt. In der Gegend, aus der meine Mutter kommt, gibt es eine uralte Mühle. Die war eigentlich schon verfallen. Jetzt hat ein Investor unfassbar viel Geld in die Hand genommen, um sie so herzurichten, dass sie aussieht wie vor 30 Jahren. Ich denke, wenn man das anpackt, sollte man es eigentlich so restaurieren, dass es aussieht wie vor hundert Jahren, also wie im Originalzustand. Aber jetzt wird ein Zustand geschaffen, in dem die Mühle eigentlich schon im Verfall war, nur dass sie neu aussieht wie im Verfall. Das ist verrückt, aber da stellt jemand seine eigene Erinnerung wieder her.

Noch ein Wort zur Filmmusik. Du bist einerseits Metal-Fan und hast ein Buch über „Motörhead“ geschrieben, aber du magst auch „Element of Crime“, mit denen du dich mal für ein Interview getroffen hast. „Element of Crime“-Gitarrist Jakob Ilja zeichnet für die Musik in „Mittagsstunde“ verantwortlich. Hattest du darauf Einfluss?

Ich habe damit gar nichts zu tun. Jakob Ilja und Lars Jessen verbindet eine langjährige Zusammenarbeit. Ich kannte Jakob lange Zeit nur als Gitarristen von „Element of Crime“. Irgendwann, als Lars in Rostock einen Polizeiruf inszenierte, bekam ich mit, dass Jakob auch Filmmusiken schreibt. Da machte er das aber schon etwa 20 Jahre. Durch meine Begegnung mit Sven Regener ist auch ein Kennenlernen mit Jakob entstanden. Aber was „Mittagsstunde“ betrifft, haben wir uns erst bei der Hamburger Premiere des Films getroffen. Lars hat ja so eine Atmosphäre in sich, die ihn zum bekennenden Heimatfilmer macht. Und Jakob hat die musikalischen Mittel parat, die das ausdrücken, was Lars seelisch in sich trägt. Vor allem das Bekenntnis zu Schleswig-Holstein ist bei Lars ungeheuer stark ausgeprägt.

 

Zur Person

Charly Hübner wurde 1972 im mecklenburgischen Neustrelitz geboren. Von 1993 bis 1997 studierte er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Während des Studiums lernte er die Theaterregisseure Tom Kühnel und Robert Schuster kennen, mit denen er Inszenierungen für das Maxim-Gorki-Theater und die Schaubühne in Berlin, ab 1997 auch für das Schauspielhaus und das TAT in Frankfurt am Main erarbeitete. 2003 wechselte Hübner von der Bühne vor die Kamera. Einem breiteren Publikum wurde er 2006 durch seinen Auftritt in „Das Leben der Anderen“ bekannt. Es folgten zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen, unter anderem in der Comedyserie „Ladykracher“ an der Seite von Anke Engelke und vor allem als Ermittler „Bukow“ im Rostocker „Polizeiruf 110“. Sein Debüt als Regisseur gab er mit der Doku „Wildes Herz“ über die Punkband „Feine Sahne Fischfilet“.

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Interview mit Charly Hübner zu „Mittagsstunde“

Geschrieben von Peter Gutting

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Start: 01.01.1970