Kann man heute mit einer Kippa unbehelligt durch Berlin laufen? Schwierige Frage. Einerseits beherbergt die Hauptstadt die am stärksten wachsende jüdische Gemeinde außerhalb Israels. Andererseits häufen sich die Klagen über antisemitische Übergriffe. Sicher ist: die meisten Deutschen sind befangen in ihrer Haltung zum Judentum. Sie finden keinen Weg, den Nachkommen der Opfer auf offene oder neugierige Weise zu begegnen. Das haben auch die ungarischen Filmemacher Kornél Mundruczó (Regie) und Katá Weber (Drehbuch) erfahren, als sie vor wenigen Jahren nach Berlin zogen. Was sie erlebt haben, verarbeiten sie in ihrem neuen Film. Aber nicht in simplem Realismus, sondern in einem kraftvollen Kunstwerk, das nicht nur von der Gegenwart erzählt. Sondern von drei Generationen jüdischen Lebens in Europa.
Am unvorstellbaren Grauen führt kein Weg vorbei. Drei Männer betreten einen dunklen, Verlies-artigen Raum. Jeder trägt zwei volle Wassereimer in den Händen. Ihre Gesichter: gezeichnet von übermenschlicher Anspannung. Ihre Augen: voller Panik. Trotz ihrer dicken Mäntel fangen sie an zu zittern, während ihnen zugleich der kalte Angstschweiß auf der Stirn steht. Irgendwann erfahren wir, dass es sich um polnische Mitarbeiter des Roten Kreuzes handelt. Und um das Jahr 1945, kurz nach der Befreiung der Konzentrationslager. Die drei Männer sollen das Unmögliche tun: etwas zu säubern, das niemals reinzuwaschen ist – eine Gaskammer. Dem Horror, der ihnen ins Gesicht geschrieben ist, kann sich niemand entziehen. So intensiv ist die Kameraarbeit von Yorick Le Saux, der sich in Echtzeit, ohne einen einzigen Schnitt, mit den Schauspielern durch den Vorhof der Hölle tastet. Der jede Regung geradezu aufsaugt und die Szenerie irgendwann ins Surreale oder zumindest Wundersame kippen lässt. Ein kleines Kind schreit. Es wurde unter Abflussgittern versteckt.
Éva (Lili Monori), das Kind, sehen wir viele Jähre später als alte Frau wieder, in der zweiten von insgesamt drei Episoden, die durch Schwarzblenden und Zeitsprünge getrennt sind. Schon am Rande der Demenz, streitet sich Éva mit ihrer Tochter Léna (Annamária Láng). Es geht, neben vielem anderen in einem atemlosen Schlagabtausch, um die Frage, ob Léna eine Geburtsurkunde mit nach Berlin nehmen darf. Dorthin ist sie mit ihrem Sohn Jónás (Goya Rego) gezogen, während Éva, die alte Frau, weiter in Budapest lebt. Léna will ihren Sohn bei einer jüdischen Schule anmelden, aber Éva ist strikt dagegen, dass der Familienname überhaupt irgendwo in Deutschland noch einmal registriert wird. Vor den Nazi-Teufeln in Berlin hat sie ganz einfach Angst, egal, wieviel Zeit verstrichen ist.
Doch Léna hat die ewigen Opfer-Geschichten satt. Sie will keine Überlebende sein wie ihre Mutter. Sie will leben, selbstbewusst und frei, als Jüdin in Berlin. Dass das nicht so einfach ist, erfahren wir in der dritten Episode, als Jónás, der ganz offensichtlich nicht oder nicht mehr auf eine jüdische Schule geht, von seinen teils muslimischen Klassenkameraden gemobbt wird. Seiner Lehrerin, Frau Clausen (Jule Böwe), scheint nichts wichtiger, als einen Skandal zu vermeiden und Antisemitismus als Dummheit pubertierender Jungs kleinzureden.
Das ist in knapper Zusammenfassung die Story. Aber man wird dem Film nicht gerecht, wenn man nicht über seine außergewöhnliche Visualität und die damit verbundenen Leistungen der Schauspieler schreibt. Nicht nur ist die erste Episode komplett in einer einzigen Einstellung gedreht, auch in den beiden folgenden sind Schnitte die Ausnahme. Dadurch erzeugt der Film einen Sog, der das Publikum mitten ins Geschehen zieht. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben die Szenen in Echtzeit wie im Theater, nur dass sie durchs Auge der Kamera blicken und ganz nah dran sind, wenn Léna an ihrer altersschwachen Mutter verzweifelt oder wenn Jónás durchs heutige Berlin streift und sich in die unkonventionelle Muslima Yasmin (Padmé Hamdemir) verliebt, eine Außenseiterin wie er selbst.
„Evolution“ kreist um Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, vor allem nicht für uns Deutsche. Gern blickt man hierzulande auf die Holocaust-Überlebenden, ehrt sie in Festveranstaltungen, lädt sie in Schulen ein, damit sich das Unvorstellbare niemals wiederholt. Aber Kornél Mundruczó und Katá Weber („Pieces of a Woman“, 2020) blicken nicht auf feierliche Fassaden, sondern auf das echte Leben dahinter, das sie mit autobiografischen Erlebnissen untermauern. Sie schauen auf die Last, die die Überlebenden bis zur zweiten und dritten Generation mit sich herumschleppen, oft unbewusst, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Alptraum für Alptraum. Bestünde der Film nur aus den ersten beiden Episoden, würde seine kompromisslose Wahrhaftigkeit in eine kaum zu ertragende Finsternis führen. Aber die letzte Episode, mit 40 Minuten die längste, lässt das berühmte Licht am Ende des Tunnels leuchten. Und zwar nicht aus billigem Wunschdenken, sondern weil auch dies zur Wahrheit gehört: Erst die dritte Generation hat tatsächlich die Chance auf ein Leben, das sich vom reinen Überleben emanzipiert.
Drei Generationen jüdisches Leben: Kornél Mundruczó und Katá Weber spüren in großer Wahrhaftigkeit den Folgen des Holocausts bis ins dritte Glied nach. Ihr außerordentlich kunstvoller, keineswegs rückwärtsgewandter Film führt durch finstere Keller zum Schimmern der Hoffnung.