cinetastic.de - Living in the Cinema

Interview mit Bernard Campan

Geschrieben von Peter Gutting am 31. Mai 2022

Bernard Campan ist nicht nur Schauspieler, sondern sitzt regelmäßig auch auf dem Regiestuhl. Das tat der Franzose schon 1995 in der Komödie „Alles kein Problem!“. Seinen neuen Film „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ drehte er zusammen mit seinem Freund, dem Philosophen Alexandre Jollien, der mit einer körperlichen Behinderung zur Welt kam. Die beiden erzählen eine sehr persönliche Geschichte, die sie gemeinsam geschrieben haben und auch gemeinsam als Darsteller zum Leben erwecken: die Geschichte ihrer ungewöhnlichen Freundschaft, verpackt in einen fiktiven Plot. Alexandre Jollien spielt Igor, der durch eine frühkindliche Hirnschädigung mit motorischen und sprachlichen Problemen zu kämpfen hat. Er jobbt als Fahrradkurier für Biogemüse und hat als Hobby-Philosoph immer ein paar kluge Sprüche auf Lager. Bernard Campan stellt Louis dar, einen Workaholic-Unternehmer und Inhaber einer Bestattungsfirma. Als er mit seinem Leichenwagen den radelnden Igor anfährt, beginnt eine humorvolle Reise durch ein Land voller Vorurteile gegen Menschen mit Behinderung. Zum Filmstart sprachen wir mit Bernard Campan über Alexandres ersten Joint, Unstimmigkeiten am Set und warum Philosophie Grundschulfach werden sollte.

Sie und Alexandre Jollien sind nicht nur Freunde im Film, sondern im realen Leben. Wie haben Sie sich kennen gelernt?

Wir kennen uns schon seit 18 Jahren. Ich sah Alexandre in einer literarischen TV-Sendung. Dort erzählte er über sein erstes Buch. Ich war sehr berührt von seiner Beziehung zur Philosophie. Im Film werden einige Sätze zitiert, die Alexandre damals in dieser Sendung gesagt hat. Der Moderator der Sendung hatte Alexandre vorgehalten, dass er nur abstrakte Formeln von sich gebe. Und Alexandre antwortete, dass diese Formeln ihm das Leben gerettet haben. Ich habe mit Alexandre gemeinsam, dass für uns die Philosophie wie eine Hilfe fürs Alltagsleben funktioniert. Nach der Sendung recherchierte ich seine Nummer und rief ihn an, um mich mit ihm über das Leben und die Philosophie auszutauschen. Tatsächlich telefonierten wir mehrere Tage hintereinander und beschlossen dann, uns zu treffen.

Welche Beziehung hatten Sie vor Ihrer Begegnung mit Alexandre zur Philosophie?

Menschen, die uns kennen, sprechen oft von einer spirituellen Verbindung zwischen mir und Alexandre. Ich befand mich damals auf der Suche nach meiner eigenen Spiritualität. Ich sympathisiere mit den asiatischen Weisheiten, die die Gegensätzlichkeit zwischen unterschiedlichen Kräften aufheben und eins werden lassen. In diesem Punkt sehe ich auch Gemeinsamkeiten der griechischen Philosophie mit Spinoza oder Nietzsche.

Wenn Sie beide sich heute privat treffen, worüber reden Sie dann?

Alexandre hat einen besonderen Lebensweg hinter sich. Er hat 17 Jahre in einer Institution für Menschen mit Behinderung gelebt. Dadurch war er nie richtig Jugendlicher. Es hat sich natürlich so ergeben, dass wir eine Art jugendlicher Freundschaft entwickelt haben, mit allem, was dazu gehört: Blödsinn machen, lachen, unbefangen und ausgelassen sein. Das hat Alexandre gefehlt und ich habe mich darum gekümmert, dass er zum ersten Mal Alkohol probiert und den ersten Joint mit mir geraucht hat. Manchmal fahren wir auch mit dem Auto herum. Unsere Freundschaft hat viele Elemente, die man auch im Film sieht. Zum Beispiel, aus einem spontanen Impuls heraus nackt baden zu gehen.

Wer von Ihnen hatte die Idee, diese Freundschaft auch zum Thema eines Films zu machen?

Die Idee stammt von Alexandre. Er entwickelte die Grundzüge des Plots: Dass es einen Bestatter geben wird, dass sich ein blinder Passagier hinten im Wagen neben dem Sarg versteckt, und dass sie dann gemeinsam in den Süden reisen. Die Inspiration hat mit einem Freund von Alexandre zu tun, der tatsächlich Bestatter ist.

Stand von Anfang an fest, dass der Film eine Komödie werden soll?

Für Alexandre war wichtig, dass der Film nicht nur tiefgründig ist, sondern zugleich eine große Leichtigkeit und viel Humor hat.

Sie führen beide Regie. Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Es gab oft Unstimmigkeiten. Alexandre hatte vorher keine Erfahrung mit dem Filmemachen. Deshalb habe ich am Anfang für mich in Anspruch genommen, dass ich der einzige Regisseur am Set bin. Aber Alexandre hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht nur in den Credits als Regisseur erscheinen, sondern tatsächlich Regisseur sein möchte. Die Schwierigkeiten, die wir am Anfang hatten, haben für mich viel geklärt. Ich habe verstanden, dass er ebenfalls als Regisseur agiert, und zwar auf seine Art und Weise. Auch wenn er kein Fachmann ist, hat er eine große Sensibilität dafür, was in den Film gehört und was nicht. Für mich war er der Kompass des Films. Er hat uns genau gezeigt, in welche Richtung wir gehen müssen. Wenngleich er nicht die Einstellungen betreut oder den Rhythmus in den Szenen vorgegeben hat, was ein Regisseur auch tun muss. Das war dann meine Aufgabe.

Sie mussten am Set verschiedene Rollen einnehmen: Regie führen, das Drehbuch im Kopf haben und vor der Kamera stehen. Wie schaffen Sie es, die verschiedenen Rollen unter einen Hut zu bekommen?

Von Anfang an hat uns der Produzent Philippe Godeau sehr unterstützt. Auch bei den Dreharbeiten war er immer präsent. Er agierte wie meine rechte Hand, auch wenn er nicht als Regisseur firmiert. Manchmal ist es schwer, wenn man vor der Kamera steht und gleich darauf hinter die Kamera wechseln muss. Ich habe das so gelöst, dass ich Philippes Blick gesucht habe, um herauszufinden, ob er gut findet, was ich gerade mache, oder nicht.

Im Film gibt es die Szene einer Hochzeit, in der die Figur des Igor so behandelt wird, wie es Menschen mit Behinderung wohl tausendfach erleben. Ein Besucher der Hochzeit redet über Igors Kopf hinweg, von oben herab. Er fragt Ihre Figur Louis, ob Igor Ihr Bruder sei, so als ob das der einzige Grund sein könnte, ihn zur Hochzeit mitzunehmen. Sie sagen: Nein, mein Freund. Spiegelt sich in dieser Szene unser aller Unfähigkeit, auf Augenhöhe mit Menschen zu kommunizieren, die anders sind als wir?

Die Frage, ob er mein Bruder sei, kommt auch im realen Leben oft vor, wenn wir zusammen unter Leuten sind. Ich kann Ihre Frage nicht allgemein beantworten, weil Alexandre ein spezielles Leben hat. Er ist zwar ein Mensch mit Behinderung, aber er ist auch sehr bekannt. Wenn er durch die Straßen geht, können beide Extreme passieren. Manchmal spricht ihn jemand an und sagt, Monsieur Jollien, ich bewundere Ihre Arbeit. Und der nächste macht ihn an und sagt: was willst du denn. Er ist keine typische Person mit Behinderung. Wir waren einmal in einer Bar und der Barkeeper stellte genau diese Frage, ob Alexandre mein Bruder sei. Als ich ihn aufklärte, lächelte der Barkeeper milde und lobte mich dafür, dass ich mich so für ihn aufopfere. Da wandte sich Alexandre zum Barkeeper und stellte klar: Monsieur, ich habe eine Frau und drei Kinder.

Die meisten Menschen reagieren mit Mitleid oder sind befangen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung treffen. Haben Sie durch Ihre Freundschaft mit Alexandre gelernt, auch anderen Behinderten, die Sie auf der Straße treffen, auf Augenhöhe zu begegnen?

Mein Blick auf Behinderungen und überhaupt mein Blick auf Unterschiede von Menschen hat sich sehr geändert. Im Übrigen sagt Alexandre von seinem Handicap, dass es noch nicht einmal eine trennendende Unterschiedlichkeit zu anderen Menschen sei, sondern etwas Spezielles, was ihn singulär auszeichnet. Seine Philosophie ist darauf zentriert, niemandem Etiketten zuzuordnen. Für ihn geht es um eine weltumfassende Solidarität, aus der man niemanden ausschließen darf. Durch die Begegnung mit ihm hat sich mein ganzes Leben verändert.

Glauben Sie, dass auch der Film dazu beitragen kann, etwas im Zusammenleben von Nicht-Behinderten und Menschen mit Handicap zu verändern?

Das wäre das Geschenk, das man sich wünscht, wenn man diesen Film macht. Ich glaube, dass er auf jeden Fall das Potenzial hat, den Blick auf das Thema zu verändern. Es ist übrigens kein Film, der über Behinderung spricht, sondern ein Film, in dem eine Person mit Behinderung vorkommt.

Wie kann uns die Philosophie helfen, unsere Probleme als Menschen besser zu bewältigen, unabhängig davon, ob wir behindert sind oder nicht?

Das Ziel der Philosophie ist, die Menschheit zu verbessern. Aber ich glaube, sie muss erst den Einzelnen verändern, bevor man an die ganze Menschheit denken kann. Mein persönliches Leben wurde jedenfalls durch die Philosophie verändert. Ihr Beitrag ist so wichtig, dass Philosophie schon in den Grundschulen unterrichtet werden sollte. Kinder stellen Fragen, die in die philosophische Ecke gehören. Sie fragen nach dem Tod und dem Sinn des Lebens. In unserem Alltag haben wir nicht die Mittel, darauf adäquat zu antworten. Stattdessen fertigen wir die Kinder mit billigen Ausreden ab. Aber ihre Fragen sind philosophische Fragen. Noch ein Wort zum Tod: Alexandre und ich sind uns einig, dass das Leben eine Tragik in sich birgt. Der Mensch versucht diesen Themen zu entfliehen: dem Tod, der Krankheit, der Tragik. Das tut er, weil er glücklich sein will. Alexandre und ich glauben aber, es wäre besser, die Tragik des Lebens anzuerkennen und darin das Glück zu finden.

Wird es weitere Filmprojekte von Ihnen beiden geben?

Unser Projekt ist, dass unsere Freundschaft weiter bestehen bleibt und sich weiter entwickeln kann. Aber wir haben im Moment kein neues Filmprojekt.

Copyright:

Kommentare

Keine Kommentare vorhanden.

Mit Facebook Anmelden um zu Posten!

Anmelden

Gewinnspiele

Gewinne Kinokarten, BluRays, DVDs,
Fan Packages und mehr!

Gleich mitmachen

Info

Interview mit Bernard Campan

Geschrieben von Peter Gutting

Länge:
Kategorie:
Start: 01.01.1970