Stan Ulam (Philippe Tłokiński) stammt aus Lemberg. Für polnische Juden ist das Ende der 1930er Jahre ein gefährlicher, wenn nicht tödlicher Ort. Stan hat Glück. Seine mathematische Begabung spricht sich bis zur amerikanischen Elite-Uni Harvard herum, wo er bereits 1938 einen Forschungsauftrag annimmt. Im Schlepptau: Sein kleiner Bruder Adam (Mateusz Więcławek), den er damit ebenfalls vor den Nazis rettet. Aber die große Schwester sowie die Eltern schweben daheim in höchster Gefahr. Wie es genau um sie steht, würden Stan und Adam gern öfter wissen, aber per Telefon kommen sie fast nie durch. Und dann müssen sich auch die eng verbandelten Brüder voneinander trennen. Stan geht mit seiner aus Frankreich stammenden Frau Françoise (Esther Garrel) an einen weit entlegenen, militärisch streng abgeriegelten Wüstenort. Sein Auftrag: Bei der Entwicklung von Atom- und Wasserstoffbomben zu helfen.
Zwei Männer im Auto, enge Freunde seit langem: „Ich unterrichte hier in Amerika, während meine Heimatstadt von den Deutschen überfallen wird“, sagt Stan in einem Anflug von Selbstekel. Seine Schlussfolgerung: „Ich sollte Soldat werden“. Kumpel John (Fabian Kociecki), ebenfalls ein Ass in Mathe und wie Stan aus Osteuropa stammend, kontert mit einem Witz: „Willst du, dass wir den Krieg verlieren?“ Im selben Atemzug macht er dem Kollegen einen ernst gemeinten Vorschlag: Mit dem Verstand gegen Hitler zu kämpfen.
John von Neumann und Stan Ulam waren nicht die einzigen, die diesen Weg gingen. Die Nazis hatten viele talentierte Wissenschaftler gegen sich aufgebracht. Im sogenannten Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe fanden sie zusammen, unter anderem der aus Ungarn stammende Edward Teller (Joel Basman), der „Vater“ der Wasserstoffbombe, der noch in Deutschland bei Werner Heisenberg seine Doktorarbeit geschrieben hatte. Wie es zuging in der US-Enklave in der Wüste, wo die hellsten Köpfe wie in einem Barackendorf aufeinandersaßen, beschrieb Stan Ulam 1976 in seiner Autobiographie. Regisseur Thor Klein hat den militärischen Ehrgeiz und die moralischen Skrupel in seinem zweiten Spielfilm ebenso spannend wie einfühlsam gegeneinander abgewogen.
Lemberg, Krieg gegen einen Diktator, Wunderwaffe – das macht das Historiendrama derzeit ungeheuer aktuell. Aber davon konnte Thor Klein, der auch das Drehbuch schrieb, natürlich nichts ahnen, als er den Stoff adaptierte. Er entdeckte die universelle Geschichte um die Frage „Was darf die Wissenschaft?“ bereits im Alter von 13 Jahren in der örtlichen Leihbibliothek. Damals stand allerdings vor allem die Coolness im Mittelpunkt, die man normalerweise kaum mit Mathematikern verbindet: schnelle Autos, heiße Partys, Witze wie am Fließband. Stan ist genau so ein charismatischer Typ, das Gegenteil vom Klischee des verklemmten, übereifrigen Bücherwurms. In seinen Vorlesungen wendet er die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Pokerspiel an, schlendert lässig in gut sitzenden Anzügen durch heilige Hallen höchster Geistesanstrengung, immer eine Zigarette in den Mundwinkeln und einen flotten Spruch auf den Lippen. Ohne Witz könne er nicht leben, sagt er einmal. Und: „Es ist Raum für Ironie in der Quantenwelt“.
Wer mit der Mathematik auf Kriegsfuß steht, hat in dem soliden Historiendrama wenig zu befürchten: Nicht Formeln oder hirnzermarternde
Beweise stehen im Mittelpunkt, sondern das politische und soziale Leben, von dem Stans bester Freund John einmal sagt, es sei viel komplizierter als die Beziehung zwischen Zahlen. Der geradlinig erzählte Ausstattungsfilm aus deutsch-polnisch-britischer Koproduktion taucht ein in die Motive der europäischen Migranten und in ihre Gewissenskonflikte. Darf man ein Verbrechen an der Menschheit begehen, um Hitler beziehungsweise Japan in die Knie zu zwingen? In den unterschiedlichen Positionen der beteiligten Wissenschaftler dekliniert der Film das moralische Dilemma durch, ohne freilich selbst Stellung zu beziehen. Das kommt ihm gerade jetzt, bei der aktuellen Waffenlieferungsdebatte, sehr zugute, die vor allem die deutsche Öffentlichkeit bekanntermaßen heftig und kontrovers diskutiert.
Während einige Landschaftsmotive das Western-Genre zitieren und die auf ein breites Publikum abzielende Machart überwiegend konventionell daherkommt, überzeugt die Inszenierung mit ihrem einfühlsamen Rhythmus. Das Abwägen theoretischer wie moralischer Fragen spiegelt sich in den Bildern. Die Kamera (Tudor Vladimir Panduru) sieht den klugen Köpfen quasi beim Nachdenken zu. Das ist wohltuend – gerade bei einem aufgeladenen Thema wie der atomaren Aufrüstung, das die Besserwisserei aus der Rückschau geradezu zu provozieren scheint. Aber wie hätten wir gehandelt, hätten wir in der Haut derer gesteckt, die mit ihrer Wunderwaffe Gott spielen durften?
„Abenteuer eines Mathematikers“ erzählt die wahre Geschichte von Stan Ulam, eines begnadeten Zahlenmenschens, der bei der Entwicklung der Atom- und Wasserstoffbombe mitwirkte. Während die Landschaftsaufnahmen an Western erinnern, betört der bislang wenig bekannte Hauptdarsteller durch sein charismatisches Spiel.