Sie heißt „Todeszone“: eine Region im Norden Mexikos, in der konkurrierende kriminelle Banden das Sagen haben. Niemand wagt sich hierhin. Wer es doch tut, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Dörfer stehen leer, die Häuser ausgeraubt, die Tiere abgeschlachtet. Immer wieder verschwinden spurlos Menschen, teilweise werden ganze Busse entführt. Von den Familien der gekidnappten Migranten verlangen die Banden dann Lösegeld. In anderen Fällen werden Frauen versklavt. Von der Spurensuche im verbotenen Gelände erzählt Regisseurin Fernanda Valadez auf visuell betörende Weise.
Ein schlichtes Bauernhaus irgendwo in der Region Guanajuato: Durchs Fenster sieht man eine junge Gestalt über die Wiese laufen, sie nähert sich langsam der schlichten Hütte. Irgendwann wird deutlich, dass es ein Junge ist, aber die Scheiben sind halb blind, sie erlauben nur undeutliche Eindrücke. Irgendwie fremd scheint der Jugendliche, eine gespenstische Gestalt. Als er fast in der Tür steht, sagt er einen verhängnisvollen Satz. Er, Jesús (Joan Jesús Varela), werde mit seinem Freund weggehen, über die Grenze in die USA. Die Mutter, der diese Nachricht gilt, bleibt im Off. Als wir sie sehen, sind schon zwei Monate seit der Abreise der beiden Kumpels vergangen. Magdalena (Mercedes Hernández) ist auf dem Weg zur Polizei.
Die Mutter ist eine einfache Frau, sie versteht nicht, warum ihr Sohn fortging, genauso wenig wie der Vater des Freundes von Jesús sein Schicksal fassen kann. Die Leiche des Freundes wird irgendwann gefunden, von Jesús taucht lediglich die Reisetasche auf. Das alles geschieht in minimalistischen, beinahe lakonischen Szenen. Trauer und Wehgeschrei bleiben ausgeblendet, die Dialoge sind karg, nur auf das Praktische beschränkt. Was die Ungewissheit mit Magdalena macht, spiegelt sich lediglich in ihrem Gesicht: in unbewegtem, erstarrtem Mienenspiel, das sich wie ergeben in sein Schicksal zu fügen scheint. Magdalenas Augen hingegen sprechen eine andere Sprache. Sie verraten die Beharrlichkeit und die Kraft einer Mutter, die nie aufgeben wird, bevor sie ihren Sohn – tot oder lebendig – gefunden hat.
Was die Dialoge verschweigen, erzählt die Bildsprache umso beredter. Fahles gelbes Licht sickert durch die Büros, in denen alles vertuscht werden soll. Auf der nächtlichen Fahrt Magdalenas Richtung Grenze verschwimmen die Lichter zu abstrakten Farbspielen – in gezielten Unschärfen, die den größeren Teil ihrer Reise auf den Spuren des Sohnes und in die „Todeszone“ beherrschen. Die ruhig geführte Kamera (Claudia Becerril Bulos) bewegt sich sozusagen in den Fußstapfen der nachforschenden Mutter, nimmt wahr, was sie wahrnimmt, blendet aus, was ihren Augen unwichtig erscheint. Was zu erzählen ist, registrieren die Großaufnahmen der Gesichter, Emotionen spiegeln sich in spärlicher Beleuchtung, im Blick durch Türspalte oder im Spiegel von Scheiben. So fühlt es sich an, wenn sich jemand durch das Dickicht behördlicher Verdunkelung schlägt.
„Haben Sie Kinder“, fragt Magdalena einmal eine Frau, die sie warnt, öffentlich keine Fragen zu stellen wie die nach dem Verbleib von Bus 670, den der Sohn nachweislich genommen hat und der spurlos verschwunden ist. Eine Antwort bekommt sie nicht, aber in der Frage fokussiert sich die Gefühlslage, die ansonsten mit Worten viel schwerer zu umschreiben ist als sie sich in Bilder fassen lässt. Den Zuschauer, der sanft an diese Art visuellen Erzählens herangeführt wurde, wundert es kaum, als sich die Farben und das Licht plötzlich drastisch ändern. Es geschieht ausgerechnet, als Magdalena die „Todesszone“ erreicht hat. Im Augenblick der größten Gefahr hellt sich die Stimmung auf, die Kamera feiert die Natur in lyrischen Großaufnahmen von Gräsern, Blättern, Insekten. Magdalena ist im Angesicht teuflischer Gewalt mit sich im Reinen. Sie hat das Richtige getan. Ist der Wahrheit so nah wie nie, selbst wenn sie das mit dem Leben bezahlen müsste.
Natürlich ist „Was geschah mit Bus 670“ nicht nur eine intime Studie extremer Gefühle, sondern lässt in der individuellen Spurensuche die dokumentarisch verbürgte Lage eines ganzen Landes aufscheinen. Für die mexikanischen, vielleicht auch die US-amerikanischen Zuschauer dürfte klar sein, auf welche Geschehnisse und realen Probleme hier angespielt wird. Mit europäischen Augen gesehen, bleiben jedoch zu viele Rätsel, die der Film selbst im Abspann nicht aufklärt. Wer sind diese Banden? Was bezwecken sie mit der Entvölkerung ganzer Landstriche? Warum vertuschen die Behörden ihre Gräueltaten? Das lässt sich nur durch Internetrecherche aufklären, der Film tut es nicht.
„Was geschah mit Bus 670?“ ist eine psychologische und gesellschaftliche Studie mit einer erfrischend kreativen Bildsprache. Die Debütantin Fernanda Valadez kommt ihrer Heldin dank einer ausgefeilten Ästhetik berührend nahe. Zu voraussetzungsvoll – zumindest aus europäischer Sicht – gerät jedoch die Verflechtung mit den sozialen Verhältnissen. Hier empfiehlt sich eine vorherige kurze Recherche, um die Leistung des Films voll würdigen zu können.