2018 debütierten die Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo mit „Boys Cry“, einem Genrefilm über das Schicksal zweier Profikiller. Auch in ihren Nachfolger haben sich Genre-Elemente eingeschrieben, auch wenn sie das Drama über wohlstandsverwahrloste Kinder nicht dominieren. Bei der Berlinale 2020 mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet, entwirft der zweite lange Spielfilm der Regiebrüder ein düsteres Szenario des heutigen Italien.
Eine bescheidene Reihenhaussiedlung in der italienischen Provinz: Wer hier gebaut hat, konnte sich nichts Besseres leisten. Die eigentlichen Träume sind also geplatzt für die Familien Placido und Rosa, die sich in der Schwüle eines gewitterträchtigen Sommers auf dem winzigen Rasenstück treffen. Die typische italienische Geselligkeit und Freundschaft will hier nicht mehr aufkommen, zu zerfressen sind Bruno Placido (Elio Germano) und Pietro Rosa (Max Malatesta) von Konkurrenzdruck, Neid und unterdrückter Wut. Und zu gelangweilt treibt Brunos Frau Dalila (Barbara Chichiarelli) durch die dröge Dreifachbelastung mit Job, Familie und Haushalt.
Alle scheinen so sehr in sich selbst verstrickt, dass sie durch ihre Kinder Alessia (Giulietta Reggiani) und Dennis (Tommaso di Cola) quasi hindurch blicken, ohne auch nur einen Funken Anteilnahme oder Zuneigung. Für die Außendarstellung allerdings spielen sie heile Welt. Die Kinder beobachten das mit großen Augen, instinktivem Wissen und heiliger Unschuld. Nur eines scheint klar: So, wie die Kamera von Paolo Carnera den Druck im Familienkessel einfängt, muss es irgendwann einen großen Knall geben.
Nachbar Pietro prahlt mit beruflichen Erfolgen. Eine neue Sensitiv-Seife hat er mit entwickelt. Außerdem ein Kindershampoo, das nicht in den Augen brennt. Seine Erfolgsphilosophie stammt von keinem Geringeren als Apple-Gründer Steve Jobs, dessen Buch er gerade liest. Bruno hingegen studiert derzeit nur Stellenanzeigen. Deshalb will er von etwas Erfreulichem reden, nämlich den Zeugnissen seiner Kinder Alessia und Dennis. Wie stramm stehende Soldaten lesen die beiden ihre Noten vor: Fast alles Einsen mit einem Plus. Aber der Vater schaut nur triumphierend zum Nachbarn hin, für die Leistungen seiner Sprösslinge findet er keinerlei Lob, er lässt sie einfach abtreten.
Vermutlich hatten viele Kinder schon einmal das Gefühl, als Stellvertreter für elterliche Größenphantasien missbraucht zu werden. Insofern dürfte man die Szene realistisch nennen. Aber so, wie sie inszeniert ist, müsste sie aus einem Genrefilm stammen. Wer hat diese Kinder verhext? Wer hält sie gefangen wie willfährige Sklaven? Wer hat ihnen ihre Gefühlsregungen, ihre Spontaneität geraubt? Damiano und Fabio D’Innocenzo, die Zwillingsbrüder auf dem Regiestuhl, verzerren das Wirkliche ins Monströse. Sie lösen damit kleine Schocks aus, in episodenhaft verwobenen Bruchstücken aus dem Alltag weniger Familien. Und sie lassen die Kamera so agieren, dass überall ein Geheimnis zu lauern scheint – eine verborgene Leiche im Keller, die die schreckliche Kälte in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die Sprachlosigkeit und versteckte Gewalt erklären könnte. Unwirkliche, leicht ausgewaschene Farben dominieren das Geschehen, ungewöhnliche Blickwinkel fangen es ein in manchmal derart knisternden Einstellungen, dass eine Explosion bevor zu stehen scheint.
Die Brüder D’Innocenzo, die auch das Drehbuch geschrieben haben, machen schon in der Rahmenhandlung ihres zweiten Spielfilms das erzählerische Prinzip deutlich. Dort berichtet ein nie zu sehender, namenloser Erzähler, dass er das Tagebuch eines kleinen Mädchens gefunden habe – also etwas Handgreifliches, wirklich Geschehenes. Aber was da stand, berichtet die Stimme aus dem Off, habe ihn nicht wegen der Geschichte interessiert, sondern wegen dem Ungesagten, das darin mitschwang. Und weil die Tagebucheinträge irgendwann einfach ohne Erklärung stoppten, entschloss sich der Erzähler, die Geschichte des Mädchens selber weiterzuschreiben – also fiktiv auszumalen, satirisch zu überhöhen und anklagend zu überspitzen. Dichtung und Wahrheit, wer wollte sie in einem solchen Konglomerat auseinanderhalten?
Der Mystery-Faktor des Films hält den Zuschauer in den manchmal arg zerdehnten Einstellungen bei der Stange. Aber er nährt auch den Verdacht, als seien hier manche Dinge bewusst verrätselt worden. Vielleicht, weil die Kritik an einer Gesellschaft, die die Familie dem Konsum opfert, keinen abendfüllenden Film getragen hätte? Oder weil sich die Kinder in einer geradlinigen Bestandaufnahme nicht als engelsgleiche Unschuldslämmer hätten darstellen lassen, die wie durch ein Wunder von den Beschädigungen ihrer Eltern nichts abbekommen? Um nicht platt zu wirken, hält der Film vieles in der Schwebe und lässt ganz unterschiedliche Interpretationen zu. Aber trotz der wunderschönen, hypnotisch aufgeladenen Ästhetik fehlt dem modernen Märchen etwas: eine Figur oder ein Schicksal, die verhindern, dass die im Film gezeigte Teilnahmslosigkeit in den Zuschauerraum hineinstrahlt.
Mit seinen stimmungsstarken Bildern fängt „Bad Tales – Es war einmal ein Traum“ Schwächen in der erzählerischen Konstruktion auf. Ästhetisch reizvoll, aber inhaltlich etwas dünn, überzeugt der zweite Spielfilm der Brüder D’Innocenzo durch eine eigenwillige Handschrift, die Vertrautes ins Monströse verzerrt.