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Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

Geschrieben von Peter Gutting am 16. April 2022

Wie würde Ihr Leben aussehen, wenn Sie nicht sagen könnten, was Sie denken? Diese Frage stellt der japanische Autist Naoki Higashida den Lesern seines Buches „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“. Darin versucht der mit schwerem nonverbalen Autismus geborene, damals 13-jährige Autor zu erklären, wie sich seine Art des Fühlens und Denkens von der eines „normalen“, neurotypischen Gehirns unterscheidet. Eigentlich war das ein unmögliches Unterfangen. Zu groß ist die Schwierigkeit zu verstehen, wie es sein mag, von unzähligen Details einer Wahrnehmung überflutet zu werden oder in einem Meer von Wörtern zu ertrinken. Und doch bewirkte das Buch ein Wunder: Eltern nichtsprechender Autisten verstanden plötzlich ihre Kinder besser. Der britische Dokumentarfilmer Jerry Rothwell setzt das Mirakel mit cineastischen Mitteln fort, in einer ästhetisch reizvollen und informativen Reise zu bislang unbekannten Wahrnehmungs- und Gefühlswelten.

Am naheliegendsten wäre es natürlich gewesen, den heute 25-jährigen Naoki Higashida selbst zu fragen. Aber der junge Mann wollte nicht im Film mitwirken, sein Buch soll für sich sprechen. Also machte der Regisseur aus der Not eine Tugend und holte den ebenfalls von der Krankheit betroffenen japanischen Jungen Jim Fujiwara vor die Kamera. Ihn lernt der Zuschauer quasi wie ein Alter Ego des Buchautors kennen. Ergänzend liest aus dem Off eine erwachsene Stimme Passagen aus dem Buch – ein Kommentar, der sich wie ein roter Faden durch den Film zieht. In der Kombination von Aufnahmen mit dem Jungen und den Sätzen aus dem Off ergibt sich die subjektive Perspektive eines nichtsprechenden Autisten, sozusagen seine innere Welt, in die der Zuschauer hineingezogen wird. Gemeinsam mit Jim Fujiwara/Naoki Higashida besuchen wir fünf Autisten auf vier Kontinenten, Amrit in Indien, Joss in England, Emma und Ben in den USA sowie Jestina in Sierra Leone. Statt als „Objekte“ eines dokumentarischen Interesses zu fungieren, erscheinen sie so eher als Gastgeber, die uns in ihre Welt einladen.

Den ersten Halt macht die Reise bei Amrit, deren Mutter unter Tränen den vergeudeten Jahren nachtrauert, als sie das Buch von Naoki Higashida noch nicht gelesen hatte und ihrer Tochter so viel Unrecht antat. Amrit drückt ihre Gefühle und Gedanken in Bildern aus. Sie zeichnet und malt, was sie den Tag über erlebt. Ihre Bilder sind so faszinierend und auch für „neurotypische“ Gehirne verständlich, dass sie es bis in eine eigene Ausstellung schaffen. Andere Ausdruckformen findet Joss, dessen Eltern den Film angestoßen und auch produziert haben. Wenn Joss auf dem Trampolin springt, fühlt er sich befreit von dem Chaos in seinem Kopf und den Fesseln, die ihm seine Krankheit anlegt. Die Szene stand auch Pate für den internationalen Titel des Films: „The Reason I Jump“.

Joss wird vermutlich kein selbstständiges Leben führen können, wohl aber Emma und Ben aus den USA, die sich schon seit der Kindheit kennen und eine innige Verbindung zueinander aufgebaut haben. Sie ziehen demnächst in eine gemeinsame Wohnung. Davon kann Jestina in Sierra Leone nur träumen. Dort kämpfen ihre Eltern erfolgreich darum, die erste Schule für Autisten mit aufzubauen und ihrer Tochter einen Schutzraum zu geben. Unter dem Einfluss des Aberglaubens ist die Meinung noch immer verbreitet, Autisten seien vom Teufel besessen.

In gewisser Weise knüpft „Autismus – Freundschaft braucht keine Worte“ formal und erzählerisch an das Motiv eines geschützten Raums an. Im Buch von Naoki Higashida ist viel von Reizüberflutung die Rede, von einem ständigen Angespanntsein, vom Überschwemmtwerden mit Erinnerungen und Assoziationen. Der Film setzt auf das Gegenteil, auf klare Gliederung, einen ruhigen Rhythmus und eine so verständliche Annäherung an eine letztlich nicht komplett verstehbare Welt wie möglich. Natürlich müssen die ebenso fantasievollen wie einfühlsamen Form- und Farbenspiele der Filmbilder, genau wie die experimentellen Annäherungen auf der Tonebene, den Schritt ins Abstrakte gehen. Aber sie tun dies behutsam, ganz offensichtlich mit dem Anspruch, den Zuschauer nicht zu verstören.

Wie das Buch schlägt der Film eine Brücke. Er lässt den Zuschauer ein Stück Fremdheit überwinden. Immer wieder springt der Funke über, etwa wenn die Freude in den Gesichtern der Porträtierten erlebbar macht, wie revolutionär der Weg aus der Isolation in die Teilhabe ist. Damit erreicht der Film sein erklärtes Ziel, nämlich Berührungsängste zu nehmen. Aber die ebenso informative wie ästhetisch faszinierende Reise ins Land des Autismus hat auch einen weiteren Effekt. Man beginnt, die Selbstverständlichkeit des eigenen Wahrnehmens zu hinterfragen. Einerseits, um Erfahrungsweisen zu genießen, die jenseits geordneter Schubladen liegen, etwa in Tagträumen oder in der Meditation. Andererseits, um die Leistung unseres Gehirns besser schätzen zu lernen, das angesichts der Millionen von Eindrücken, die täglich auf uns einprasseln, gelernt hat, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

„Autismus – Freundschaft braucht keine Worte“ ist eine wunderschön anzusehende Reise in die Welt der Autisten, die neben ihrer wichtigen Mission auch ein Vergnügen ist. Der Film lädt ein, neugierig zu sein, zu staunen und Gewissheiten in Frage zu stellen.

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Copyright: DCM

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Länge: 92 min

Kategorie: Documentary

Start: 20.05.2022

cinetastic.de Filmwertung: (8/10)

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Info

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 92 min
Kategorie: Documentary
Start: 20.05.2022

Bewertung Film: (8/10)

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