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Recycling Medea

Geschrieben von Peter Gutting am 14. September 2021

Asteris Kutulas ist so vielseitig wie kaum ein anderer Filmemacher. Der in Rumänien geborene Sohn griechischer Einwanderer arbeitet nicht nur als Regisseur und Autor, sondern auch als Event- und Musikproduzent, Publizist und Übersetzer. Seit 1980 produzierte er über dreißig CDs für den griechischen Komponisten Mikis Theodorakis, der kürzlich im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Theodorakis war eine Art griechischer Nationalheld. Mit seiner einzigartigen Mischung aus Folklore und Klassik hat er sich den Ruf einer „Stimme des Volkes“ redlich verdient. Das wird einmal mehr in Kutulas‘ Essayfilm deutlich, zu dem Theodorakis nicht nur die Musik, sondern auch mehrere Statements beisteuert. Die kunstvolle Collage aus Tanz, Musik und Politik verwebt die Oper „Medea“ des Komponisten mit Ballett, Ausdruckstanz und dem Protest der Jugend gegen die EU Sparpolitik anfangs der 2010er Jahre.

Schneeweiß ist das lange Kleid der Tänzerin. So weiß, dass die roten Blutspritzer darauf wie ein Fanal wirken. Mit starrem Gesicht und wackligem Schritt nähert sich Medea (Maria Kousouni) der Kamera. Eng flankiert wird sie von fünf anderen Tänzerinnen, bleich geschminkt wie der Tod. Schnitt: Polizisten in voller Montur rücken auf Demonstranten vor, ihre Gruppierung ähnelt verblüffend der Formation der Tänzerinnen auf der Bühne. Was ist das? Eine Metapher? Ähnelt Medeas Gewalt gegen ihre Kinder dem staatlich verordneten Niederknüppeln der griechischen Jugend während der Proteste gegen das von der EU verordnete Spardiktat? Man kann es so sehen. Regisseur Asteris Kutulas legt es sogar nahe, wenn er zu Beginn seines Films eine Schrifttafel einblendet: „Dieser Film ist gewidmet den Eltern, die die Träume und die Zukunft ihrer Kinder getötet haben“. Doch die Interpretation ist nicht zwangsläufig. Wie bei jedem filmischen Essay öffnen sich Assoziationsräume. Wie sie gedeutet werden, ist Sache jeder Zuschauerin und jedes Zuschauers.

Um sich dem bereits 2013 fertiggestellten auf Festivals gezeigten, aber erst jetzt in die deutschen Kinos kommenden Werk zu nähern, muss man sich erinnern: an die Jahre 2010 bis 2013, als das massiv überschuldete Griechenland pleite zu gehen drohte und die EU ihre Hilfen mit drastischen Bedingungen verknüpfte. In der Folge stieg vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in astronomische Höhen, die griechische Jugend wurde quasi zur Auswanderung gedrängt – oder auf die Straße. Unter den Demonstranten damals: der kürzlich verstorbene Komponist und griechische Nationalheld Mikis Theodorakis. Seine Oper „Medea“ erklingt in dem Film, als Musik zu dem Ballett, das Choreograf Renato Zanella dazu kreiert hat. In der kunstvollen Kombination von Tanzproben, Aufführung, Doku-Material und der fiktiven Figur der „Unschuld“ (Bella Oelmann) entwirft Theodorakis‘ Freund und Übersetzer Asteris Kutulas eine Collage zwischen Kunst und Politik, zeitloser Tragödie und tagesaktuellem Geschehen.

Nicht erinnern muss man sich dagegen an den Medea-Stoff. Choreograf Renato Zanella und mit ihm der Regisseur erzählen anschaulich die getanzte Handlung nach – von der mit Jason nach Griechenland geflohenen Ausländerin Medea, die von ihrem Ehemann schmählich verstoßen wird und aus Rache seine Geliebte und die eigenen Kinder tötet. Es ist eine erfrischend moderne Version, die in emotional ergreifende Bilder und Bewegungen gegossen wird. Schrifttafeln wie im Stummfilm erläutern den Gang des Geschehens, humorvoll im Boulevardstil verfasst. „Medea geschockt – Ihr Mann betrügt sie“, heißt es da etwa. Und der Choreograf erläutert in dazwischen geschnittenen Interviews sein eingängiges Konzept: „Wenn man sich fragt, habe ich jemals auch so gehasst wie Medea, dann habe ich mein Ziel erreicht.“

Keinen „Opern-Ballett-Film“ habe er drehen wollen, hat Regisseur Asteris Kutulas mit Blick auf die rebellische Haltung seines Essays gesagt. Aber zum Glück ist das nicht die volle Wahrheit. „Recycling Medea“ ist ein Fest für die Sinne, also in gewissem Sinne eben doch auch ein Opern-Ballett-Film. Getragen wird er von der für Theodorakis charakteristischen, wuchtigen Orchestermusik, den lyrischen Gesangsstimmen, der ausdruckstarken Primaballerina Maria Kousouni und den verzauberten Landschaftsszenen mit der „Unschuld“, die ein wenig an die filmische Naturpoesie eines Terrence Malick erinnern. Trotz seiner bewusst modernen Interpretation schlägt „Recycling Medea“ zeitlos-tragische Töne an. Sehr zu seinem Vorteil verlässt sich der Film auf die nie endgültig ausdeutbare Substanz seines Stoffes, der seit mehr als 2000 Jahren Künstler aus allen Gattungen herausgefordert hat.

Aus heutiger Sicht haben die tagesaktuellen Bezüge in Kutulas‘ Assoziationsräumen ihre Brisanz verloren. Was aber bleibt, ist der geänderte Blickwinkel, mit dem er an die Geschichte der Medea herangeht. Kaum jemand hat bisher so konsequent aus der Sicht der Kinder erzählt, die den Konflikt ihrer Eltern ausbaden müssen, und zwar auf die denkbar grausamste Weise. Wer hat je der Opfer gedacht, wenn er im Theater über die Motive der rasenden Ehefrau rätselte? Wer hat sich vorgestellt, welche Zukunft sie hätten haben können? Welche Träume sie verwirklichen wollten? Die Leerstelle ist nun gefüllt, auf eine ebenso vielschichtige wie eindringliche Weise.

„Recycling Medea“ ist ein wuchtiger Essayfilm, der verschiedene Ebenen – Politik, Musik, Tanz – kunstvoll miteinander verknüpft. Zwar haben die tagesaktuellen Bezüge an Brisanz verlorenen, nicht aber die zeitlose Musik von Mikis Theodorakis und der noch immer aktuelle Medea-Stoff.

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Länge: 75 min

Kategorie: Documentary

Start: 06.10.2022

cinetastic.de Filmwertung: (8,5/10)

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Info

Recycling Medea

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 75 min
Kategorie: Documentary
Start: 06.10.2022

Bewertung Film: (8,5/10)

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