Eigentlich hätte man gedacht, über den Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch (1945 bis 2001) sei filmisch alles gesagt. Nämlich in der sehenswerten Dokumentation „Familie Brasch“ (2018) von Annekatrin Hendel, die den berühmtesten Spross der vielköpfigen Sippe wie ein Gestirn in den Mittelpunkt stellt, um das die anderen kreisen. Doch eine faktenorientierte Recherche lässt zwangsläufig Fragen offen – Leerstellen, die nur die Fiktion füllen kann. In die Lücke stößt der neue Spielfilm von Andreas Kleinert, wie Brasch ein Kind der DDR. Seine Annäherung an ihn ist kein klassisches Biopic, sondern eine poetische Reflexion über einen Dichter, der sich weder in Ost noch in West zu Hause fühlte – und letztlich an beiden Teilen Deutschlands zerbrach.
Sommer 1956: Vater Horst Brasch (Jörg Schüttauf) hat richtig gute Laune. In kurzen Hosen macht er mit Thomas, seinem Ältesten, eine Spritztour im dicken Wagen. Die Felder rauschen, der Fahrtwind weht und Vati trällert „Jetzt fahr‘n wir übern See“. Thomas ist glücklich, so nah ist er seinem viel beschäftigten Papa selten, der es in Staat und Partei weit gebracht hat, nicht zuletzt durch seine Jugendfreundschaft und Kampfgenossenschaft mit Erich Honecker. Aber die Fahrt geht nicht an den See. Der SED-Bonze liefert seinen Sprössling an der Kadettenanstalt der Nationalen Volksarmee ab, einem Internat mit militärischem Drill, für das der schon früh rebellische und verträumte Thomas überhaupt nicht geschaffen ist.
Das schwierige und für beide Seiten desaströse Vater-Sohn-Verhältnis zieht sich durch Thomas‘ (Albrecht Schuch) Leben wie durch den Film. Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich nehmen es als Angelpunkt für tiefe Brüche und verstörende Erfahrungen. Sie lassen Interpretationsmöglichkeiten aufleuchten, vermeiden aber dogmatische Behauptungen. Letztere würden Thomas‘ schillernder Persönlichkeit auch nicht gerecht. Brasch hasste es, wenn sich jemand ein Bild von ihm machen wollte. „Wenn er Dissident sagt, schlage ich ihm ins Gesicht“, droht der gerade in den Westen ausgebürgerte Rebell, als ein Freund ihn bittet, dem wartenden Reporter des Magazins Stern ein Interview zu geben.
So viel aber lässt sich festhalten: Schon als Kind äußerte Thomas Brasch den Wunsch, Schriftsteller zu werden. Nach einem Eklat mit dem Vater zog er von zu Hause aus, eckte überall an, hatte einen Schlag bei Frauen und schrieb wie ein Besessener. Er studierte Journalistik, flog von der Uni, schlug sich mit Jobs durch, schrieb ein Skandalstück für die Volksbühne, immatrikulierte sich an der Filmhochschule, flog wieder raus, schrieb neue Stücke. Er hatte einen Sohn mit der Liedermacherin Bettina Wegener (Paula Hans), war zeitweise mit zwei Frauen zusammen, verliebte sich in die Sängerin Sanda Weigl (Ioana Iacob), hatte Affären und spannte dem Ehemann die Schauspielerin Katharina Thalbach (Jella Haase) aus. Wegen einer Flugblattaktion gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings wanderte er 1968 in den Knast. Sein eigener Vater hatte ihn verraten.
Soweit die Nacherzählung, die sich wie ein Durchrattern des Lebenslaufs anhört, was dem Film aber überhaupt nicht gerecht würde. Die kunstvolle Schwarz-Weiß-Inszenierung huldigt besonders den wilden 1960er Jahren wie im Rausch, verbindet Träume mit Wirklichkeit, Fiktionen mit Fakten. Der Film taucht ein in ein Lebensgefühl, das von einem unbezähmbaren Freiheitsdrang erfüllt wird. Thomas Brasch liebte Widersprüche, auch in sich selbst. Er war aufbrausend und ungerecht, verließ seine Frauen, sobald eine Neue sein Herz betörte, sprach aber immer respektvoll von den Verflossenen und versuchte, den Kontakt zu halten. Aus heutiger Sicht würde man sagen, er war ein Getriebener, aber sein anarchisches Wesen war damals zur richtigen Zeit am richtigen Ort, zumindest wenn man ein Popstar der Ost-Rebellen, ein Dichter des Ungehörten, ein Vordenker des anderen, freien Sozialismus sein wollte.
Albrecht Schuch spielt das mit sprühender Energie irgendwo zwischen James Dean und Andreas Baader. Er gibt den Draufgänger mit der verletzbaren, gut gepanzerten Seele, den Verführer und Menschenfänger, den Charismatiker und Einzelgänger, der nur an seiner Schreibmaschine eins mit sich war. Der Sätze schrieb wie „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“. Gleich zu Beginn zeigt die Kamera einen nackten Frauenkörper, liegend, in Rückenansicht. Nur verdeckt ist der Liebhaber zu ahnen, der mit Füller die Haut der Schönen beschreibt, bis am Ende der ganze Körper ein Text ist – Sinnbild für die beiden wohl größten Leidenschaften eines mit 56 Jahren viel zu früh Verstorbenen.
„Lieber Thomas“ ist mehr als nur eine Filmbiographie. Regisseur Andreas Kleinert verbeugt sich vor dem Lyriker, Dramatiker und Filmemacher Thomas Brasch, ohne ihn auf einen Sockel zu heben. Er beleuchtet neben den funkelnden Assoziationsräumen der Texte auch die Gegensätze der Person. Thomas Brasch betrieb die Kunst des Widerspruchs so radikal, dass es wehtat. Der Film macht Lust, seine Arbeiten neu zu entdecken.