75 Jahre ohne Krieg – so wird der europäische Gedanke oft gefeiert. Aber selbst Festredner vergessen, dass auch der Balkan mit seinen brutalen militärischen Aktionen in den 1990ern zu Europa gehört. Das Massaker von Srebrenica (1995) mag noch irgendwie im kollektiven Gedächtnis nachhallen. Aber was dort genau passiert ist, wissen die wenigsten. Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić wirkt dem Vergessen nun entgegen, mit einem packenden Drama ohne Schwarzweißmalerei, das in seiner handwerklichen Qualität ein wenig an „Schindlers Liste“ (1993) von Steven Spielberg erinnert. Dabei ist ihr neuer Film vor allem das erschütternde Porträt einer Mutter, die um jeden Preis ihre beiden erwachsenen Söhne und ihren Ehemann retten will.
Mitte Juli, sengende Hitze: Tausende belagern einen Zaum mit Stacheldraht. Sie wollen ins Lager der UN-Soldaten, auf der Flucht vor alles zermalmenden Panzern. 5000 bosnische Muslime sind schon drin, sitzen eng gedrängt auf dem Boden. Niederländische Blauhelme können niemanden mehr in die überfüllte Schutzburg lassen. Dann kommt ein schwer bewaffneter serbischer Anführer, mit höchstens zwei Dutzend Mann steigt er aus dem gepanzerten Fahrzeug. „Ich will da rein“, schnauzt er die holländischen Wachmänner an, blutjunge Kerle mit kurzen Hosen, ängstlich und überfordert. Die Serben treiben ihren Spott mit ihnen, nehmen einem den Blauhelm vom Kopf, lachen über die hilflose Truppe, die auch Mädchen in ihren Reihen hat – und laufen einfach an den Wachen vorbei.
Der Auftritt der marodierenden Soldateska erinnert in seiner Willkür an Nazi- und KZ-Filme, aber offene Gewalt wird fast nie gezeigt. Der Völkermord liegt nicht in den Bildern, sondern zwischen ihnen, in der bis zum Zerreißen angespannten Atmosphäre. Statt Maschinengewehrsalven in die Schutzsuchenden abzufeuern, werfen die Eroberer plötzlich Brote in die Menge. Aber das Unheimliche, das den Film von der ersten Minute an durchzieht, bleibt. Es wird sich steigern bis zum bitteren Ende, das nur auf der historisch-politischen Ebene feststeht, nicht in der privaten und teilweise fiktiven Geschichte, die das Kraftzentrum der Handlung bildet.
Sie dreht sich um die ehemalige Lehrerin Aida (Jasna Ðuriči), die als Übersetzerin für die UN-Blauhelme arbeitet. Durch ihre Tätigkeit weiß sie mehr als andere, kennt Hintergründe, kann die missliche Lage einschätzen, in der sich der niederländische Oberstleutnant Thomas Karremans (Johan Heldenbergh) befindet, der mit nur 400 Blauhelmsoldaten die bosnischen Muslime in der UN-Schutzzone Srebrenica vor den serbischen Truppen retten soll. Der Hintergrund: Nach dem Zerfall Jugoslawiens versuchten bosnische Serben unter dem später als Kriegsverbrecher verurteilten General Ratko Mladić (Boris Isaković), Bosnien-Herzegowina von den muslimischen Bosniern zu säubern.
Übersetzerin Aida spürt die Gefahr. Erst erreicht sie mit List und Tücke, dass ihre Söhne Hamidja (Boris Ler) und Ejo (Dino Bajrović) sowie Ehemann Nihad (Izudin Bajrović), die draußen vor dem Lager gestrandet sind, doch hineindürfen. Dann kämpft, bittet und fleht sie auf Knien, dass die ganze Familie, nicht nur die Übersetzerin allein, auf eine UN-Liste der einheimischen Helfer kommt. Dann würde ihnen, zusammen mit den Blauhelmen, freier Abzug gewährt. Das ist der zentrale Spannungsbogen, der aus der Perspektive der gehetzten, ständig rennenden Aida geformt wird. Natürlich ist deren Haltung ethisch nicht einwandfrei, aber das schmälert die Identifikation nicht im Mindesten. Und überhaupt: Wo bleibt die Moral, wenn es ums reine Überleben geht? „Meine Erfahrung mit dem Krieg ist, dass man als menschliches Wesen schrumpft“, sagt Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić in einem Interview. Sie selbst stammt aus Sarajevo und war 17, als der Krieg ausbrach.
Die eindrucksvollste Sequenz des visuell starken Films ist eine Rückblende. Sie zeigt ein fröhliches Neujahrsfest in Srebrenica. Aidas jüngster Sohn spielt mit seiner Band, irgendwann bilden alle ein großes Rund, tanzen den volkstümlichen Kolo. Die Kamera von Christine A. Maier kreist aber nicht mit. Sie scheint das ausgelassene Treiben kurz anzuhalten, um von jedem Tanzenden eine porträtartige Großaufnahme zu machen, Augen direkt ins Objektiv. Alle sind hier noch zusammen, orthodoxe Serben und muslimische Bosnier, die seit Jahrzehnten friedlich miteinander lebten. Aber die Frage des Filmtitels liegt in der Luft. „Quo vadis?“, wohin wirst du gehen? Das ist das zentrale Thema für jeden einzelnen, nicht nur für Aida. Darin schwingt auch eine universelle Frage an den Zuschauer mit, weit über die bloße Geschichtsstunde hinaus: Wie würdest du handeln, wenn es um das Leben deiner Liebsten geht?
„Quo vadis, Aida?“ verbindet historische Fakten mit dem persönlichen Drama einer Frau, die ihre Familie retten will. Regisseurin Jasmila Žbanić (Goldener Bär für „Esmas Geheimnis“, 2006) fährt großes Kino auf, um mit einer packenden Geschichte die Erinnerung an das Massaker von Srebrenica wachzuhalten. Sie verschmilzt dokumentarische Genauigkeit mit der universellen Frage ans Publikum, was jeder einzelne in vergleichbarer Situation wohl täte.