Nein, Oskar verdankt seinen Namen nicht der Anspielung auf Oskar Matzerath aus Günter Grass‘ Jahrhundertroman „Die Blechtrommel“. Der Achtjährige heißt einfach so, weil seine Figur frei nach dem Buch „Oskar und Lilli“ der Österreicherin Monika Helfer gestaltet ist. Aber es steckt viel von dem kleinen Trommler in ihm: Seine Kraft, der Welt zu trotzen, seine surreal anmutenden Einfälle und sein eigensinniger Blick auf die Welt. Der aus dem Iran stammende Regisseur Arash T. Riahi hat in die unpolitische Vorlage von Monika Helfer eigene Erfahrungen eingeflochten und ein Flüchtlingsdrama besonderer Qualität geschaffen: liebevoll und lebensprall, die harte Realität nicht unter den Teppich kehrend, aber sie auch nicht in Betroffenheitsklischees ausweidend.
Mit dem Essen spielt man nicht, heißt es. Aber es gibt Ausnahmen. Oskar (Leopold Pallua) „malt“ mit Erbsen ein Gesicht auf den Teller. Eine Karotte dient als Nase, auch auf dem Gedeck seiner 13-jährigen Schwester Lilli (Rosa Zant), die mit ihm am Küchentisch sitzt. Das Erbsen-Karotten-Gebilde ist nicht irgendein Antlitz. Das lachende Gesicht ist ein Symbol von magischer Kraft. Überall findet es sich im Wiener Alltag, an einem Fenster, im Bad oder als Perlenkette an der Wand: ein lächelndes Gesicht. Es dient als Geheimschwur der Familie, ruft Erinnerungen wach und gibt Kraft zum Durchhalten.
Aber zu lachen haben die aus Tschetschenien stammenden Kinder aktuell nichts. Der Vater gilt seit Jahren als verschollen. Und obwohl Lilli und Oskar seit sechs Jahren mit der Mutter in Wien leben, perfekt deutsch sprechen und in der alten Heimat niemals mehr zurechtkämen, steht die Abschiebepolizei vor der Tür. Die verzweifelte Mutter, seelisch sowieso angeknackst, flüchtet ins Bad und schneidet sich die Pulsadern auf. Sie überlebt, landet aber in der Psychiatrie. Oskar und Lilli teilt das Jugendamt auf zwei Pflegefamilien auf. Es sei wichtig, sie zu trennen, heißt es. So könnten sie das Trauma besser überwinden und würden nicht ständig daran erinnert. Aber Oskar und Lilli sind wie Pech und Schwefel. Sie finden Wege, sich wenigstens ab und zu heimlich zu treffen.
„Ein bisschen bleiben wir noch“ ist keine Anklage. Alle meinen es gut, selbst die Polizisten. Trotzdem läuft etwas schief in Österreich und wohl in allen westlichen Staaten. Was das genau ist, darauf reitet der Film nicht herum, jeder kann es sich denken. Stattdessen begleitet der Zuschauer Lilli und Oskar in ihre jeweiligen Pflegefamilien, was für lustige, dramatische, traurige und spannende Komplikationen sorgt. Oskar wird von einem ultrakorrekten, streng ökologisch und vegetarisch lebenden Ehepaar aufgenommen. Zum Haushalt gehören außerdem die unkonventionelle, schwer unter Parkinson leidende Oma (Christine Ostermayer) und ein munteres Kleinkind. Lilli kommt bei der allein lebenden, aber mit einem neuen Liebhaber anbandelnden Ruth (Simone Fuith) unter.
Schon am Anfang stehen die Bilder manchmal Kopf. Wie geträumt spiegeln sich die Kinder etwa verkehrt herum in einer glatten Wasseroberfläche. Erst nach und nach lässt sich ausmachen, dass sie ihre kleinen Mäuler aufsperren. Oskar flüstert: „Wenn man den Mund lang genug offen lässt, können die Sorgen vielleicht aus einem herausfliegen“. Was ist das: eine Erinnerung? Ein Alptraum? Eine Wunschvorstellung? Ganz klar wird das nicht, auf eine kunstvolle Kameradrehung folgt ein Schnitt. Regisseur Arash T. Riahi und sein Kameramann Enzo Brandner suchen die Poesie am Bahndamm, unterlaufen die Härte der Realität auch optisch mit der sprudelnden Fantasie des Achtjährigen, der sich seine eigene Realität schafft.
Ohne komplett ins Surreale abzuschweifen, gönnen sie den beiden Kindern subjektive Blickwinkel, die dem Film visuellen Zauber verleihen. Dabei decken sich die Wahrnehmungen durchaus nicht. Lillis Weltsicht ist härter, geprägt von klaren Strukturen und hellem, manchmal schneidenden Licht. Oskars Kosmos ist wundersamer und verspielter. Trotzdem ist er es, der letztlich die klügsten pragmatischen Entscheidungen trifft, um die Familie wieder zusammenzubringen. Wobei man dazusagen muss, dass das Ende bewusst offen daherkommt. Es ist theoretisch möglich, könnte aber auch märchenhafte Fantasie sein.
„Ein bisschen bleiben wir noch“ lässt sich am einfachsten anhand dessen beschreiben, was der Film nicht ist. Er ist kein Kinderfilm, obwohl ein Achtjähriger und eine 13-Jährige die Hauptrolle spielen. Er ist auch keine Komödie, obwohl es darin lustig und unterhaltsam zugeht. Und er ist kein klassisches Sozialdrama, obwohl er sich mit dem Streit um Abschiebung auseinandersetzt. Positiv gewendet: ein Film, der Widersprüchliches auf wundersame Weise vereint.