Regisseurin Ash Mayfair ist in Vietnam aufgewachsen, studierte später in Großbritannien und den USA. Sie ist in beiden Welten zuhause, einer eher traditionalistischen, in der die Gemeinschaft wichtiger ist als die individuelle Freiheit. Und im westlichen Lebensstil, der kaum noch allgemeinverbindliche Werte kennt. In der Verfilmung ihres eigenen Drehbuchs fühlt sich Ash Mayfair in eine vergangene Welt ein, die sie nur aus überlieferten Erzählungen ihrer Großmutter und Urgroßmutter kennt: in das Vietnam des 19. Jahrhunderts. Daraus macht sie einen sinnlich betörenden Kostümfilm über ein 14-jähriges Mädchen, das als dritte Frau in die Familie eines reichen Landbesitzers einheiratet.
Eng ist die Schlucht, hoch ragen die Felsen. Festlich geschmückt gleitet das Boot übers Wasser, das May (Nguyen Phuong Tra My) flussaufwärts zu dem deutlich älteren Ehemann Hung (Le Vu Long) bringt, den sie noch nie gesehen hat. So üppig wie steif wird die Hochzeit zelebriert, eine Feier nach altem Brauch, ganz in Rot, mit Prunk und höfisch anmutenden Regeln. Allen geht es gut, nur May macht ein Gesicht, als schreite sie zur Hinrichtung. Ein bisschen ist es auch so. Althergebrachte Traditionen rauben einem Kind die Unschuld, reißen es hinein in eine fremde Welt, in der es in der Hierarchie weit unten steht, unter den erfahrenen Ehefrauen und Müttern Lao (Nguyen Phuong Tra My) und Xuan (Mai Thu Huong Maya). Aber alles ist auch ein bisschen anders. Die Erst- und Zweitfrau nehmen die Dritte zärtlich unter ihre Fittiche, der Ehemann ist unerwartet einfühlsam, die Familie für damalige Verhältnisse liberal. Und das Wichtigste: May wird schnell schwanger, so dass sie hoffen darf, ihrem Mann einen Sohn zu schenken und damit in der Hierarchie aufzusteigen.
Schnell wird klar, dass „May, die dritte Frau“ nicht die Erwartungen erfüllt, die andere Filme über arrangierte Ehen bedienen. Das blutjunge Mädchen, das sich wortkarg und vorsichtig beobachtend in ihrer neuen Umgebung bewegt, ist kein eindeutiges Opfer. Die Welt, in die es gezwungen wurde, ist nicht die schlechteste aller denkbaren. Wer sich arrangiert, kann in dem reichen Haushalt ein geborgenes, behütetes und zärtlich verwöhntes Leben führen, was die sinnlich aufgeladenen Bilder von Haus, Fluss und Seidenplantage unterstreichen. Aber, auch das wird in kurzen Andeutungen klargestellt: Wer die Regeln verletzt, wird streng bestraft, wie die zwei Knechte, die uneheliche Kinder zeugten. Erotische Freiheiten sind nur so lange möglich, wie man sich nicht erwischen lässt. So unterhält die Zweitfrau eine Affäre mit dem jüngeren Sohn der ersten. Und auch in May wächst ein verbotenes Begehren.
Ist das nun Hölle oder Paradies? In seiner Visualität legt der ins Märchenhafte driftende Film den Garten Eden nahe. Wie gemalt wirken manche der Einstellungen. Die Farben schwelgen in leidenschaftlichem Rot oder unschuldigem Weiß. Der staunende, an Mays Perspektive angelehnte Blick der Kamera entdeckt die Welt, als wäre sie von morgendlichem Tau getränkt, so rein und klar erscheint der Zyklus von Natur und Menschendasein. Auf der Erzählebene aber mischt sich Teuflisches in die heilige Ordnung. May fühlt es selbst und sieht es bei anderen. Es ist der Drang nach Freiheit, nach selbstbestimmter Liebe, nach Ausbrechen aus der verordneten Bahn. Und dies nicht nur aus moderner, westlicher Sichtweise, sondern angelegt in der patriarchalisch-feudalen Gesellschaft selbst. Auch sie konnte Individualität nicht ausrotten, wie die Regisseurin aus den Erzählungen ihrer Familie erfuhr.
Die filmische Haltung zu der in Vietnam verbotenen, in vielen Ländern aber noch heute erlaubten oder geduldeten Vielehe ist ambivalent: einfühlsam und distanziert zugleich, sinnlich aufgeheizt, aber auch kritisch. Das lässt das visuell überzeugende Drama nicht wie aus einem Guss erscheinen, vor allem nicht für den westlichen Zuschauer, für den das reine Eintauchen in eine ihm fremde Vergangenheit wenig Faszination birgt. Etwas Universelles gewinnen die inneren Spannungen des Films am ehesten, wenn man ihn als Entwicklungsgeschichte liest, vom Kind zur Frau und Mutter, von einem außengesteuerten Geschöpf zur allmählich reifenden Sehnsucht nach Selbstbestimmung. Zuweilen treibt die Regisseurin jedoch ihre Liebe zu romantisch-schönen Bildern zu weit. Etwa wenn ein Mädchen, das ein ähnliches, aber schlimmeres Schicksal als May erleidet, Selbstmord begeht. Auch diese Szene wirkt wie gemalt: Die Leiche hängt an einem Baum, der sich über den Fluss neigt, wie hindrapiert in ihrem weißen, wehenden Kleid, als wäre auch das ein Bestandteil der Natur.
Wer wissen möchte, wie sich die vietnamesische Vielehe des 19. Jahrhunderts von innen her anfühlt, wird mit dem Debüt von Ash Mayfair gut bedient. Doch trotz seiner visuellen Schönheit leidet „May, die dritte Frau“ an seiner unentschiedenen Haltung zum Thema. Sicher ist es gut, dass nicht zum x-ten Mal das Opferschema bedient wird. Doch ein paar mehr verallgemeinerbare Bezüge zu aktuellen Liebes- und Eheproblemen hätten dem Kostümdrama gut getan.