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Zu weit weg

Geschrieben von Peter Gutting am 9. Februar 2020

Nur selten gelingt es deutschen Kinderfilmen, Themen aus der realen Lebenswelt mit altersgerechter Unterhaltung zu verbinden. Die Niederländer sind da deutlich weiter – mit ihrer besseren Förderung und dem höheren Ansehen, das der Kinderfilm dort genießt. Insofern ist es immer zu begrüßen, wenn sich hiesige Filmemacherinnen und Filmemacher bemühen, anspruchsvolle Arbeiten jenseits von „Bibi und Tina“ vorzulegen. Regisseurin Sarah Winkenstette und Drehbuchautorin Susanne Finken knüpfen mit ihrem Kinodebüt an die in Deutschland noch junge Tradition des „besonderen Kinderfilms“ an.

Daran hätte vermutlich auch Jogi Löw seine Freude: Nachwuchskicker Tariq (Sobhi Awad) lupft den Ball einen Tick in die Höhe, täuscht den Gegenspieler mit einer Art Übersteiger an, dreht sich und hat nun freie Bahn, den Ball ins Tor zu hauen. Der aus Syrien stammende Junge hat den ganz speziellen „Move“ von seinen großen Bruder gelernt. Nicht jedem würde er den beeindruckenden, in Zeitlupe aufgenommenen Trick verraten. Aber weil Ben (Yoran Leicher) inzwischen Tariks Freund und ebenfalls ein großes Stürmertalent ist, verrät ihm Tarik, wie es geht. Mit Vormachen allein ist es jedoch nicht getan. Es braucht Geduld und üben, üben, üben. Damit ist es beim elfjährigen Ben allerdings nicht weit her.

Wie Tariq hat auch Ben seine Heimat verloren. Seine Familie kommt aus einem kleinen Dorf, das dem Braunkohleabbau weichen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden muss. Bens Familie nutzt die Gelegenheit, dann gleich in eine größere Stadt zu ziehen. Der Elfjährige hat erstmal nichts dagegen. Er spiele demnächst bei einem richtig guten Verein, erklärt er den Kameraden der Mannschaft, dessen Star er war. Aber die Dinge in der neuen Schule und im neuen Verein laufen nicht so, wie Ben sich das vorgestellt hat. Erst jetzt merkt er, wie viel ihm der Verlust des alten Hauses und der Kumpel ausmacht.

Ben findet sich in der ungewohnten Rolle des Außenseiters wieder. Aber das heißt nicht, dass er mit anderen Außenseitern gemeinsame Sache machen will. „Das ist nicht mein Freund“, erklärt er, als die Lehrerin den ebenfalls neuen Tariq neben Ben in die Schulbank setzt. Mit dem komischen Kauz, der wenig spricht und die Nachmittage depressiv auf dem Bahnhof verbringt, möchte Ben anfangs nicht in einen Topf geworfen werden, aber irgendwann flüstert ihm der schlaue und fußballbegeisterte Tariq die richtige Lösung im Bruchrechnen ein. Das Eis ist gebrochen und die beiden entdecken, was es für den jeweils anderen bedeutet, nicht mehr nach Hause zu können – mit all den Unterschieden in der Sache (Syrien im Vergleich mit dem Hambacher Forst) und mit all den verschiedenen psychologischen Umgangsweisen zwischen Verdrängung, Trauer, Wut und Sehnsucht.

Gerade die seelische Feinzeichnung ihrer jungen Charaktere ist Autorin Susanne Finken gut gelungen. Jenseits von Klischees erkundet sie psychische Reaktionen, die individuell von der jeweiligen Familiengeschichte, den kulturellen Besonderheiten und den Eigenheiten der Persönlichkeit geformt werden. Dass aus ähnlichem Schicksal nicht automatisch Freundschaft wird, macht das Nachzeichnen der langsam sich anbahnenden Zuneigung umso glaubwürdiger. In der visuell packenden, zwischen Realismus und Tagträumen pendelnden Inszenierung wird die Freundschaft zwischen zwei Elf- bis Zwölfjährigen klischeefrei und anrührend erzählt.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Themen Heimatverlust und Aufbruch ins Neue derart aktuelle Aufhänger gebraucht hätten. Gedreht wurde tatsächlich in der Nähe des Hambacher Forstes. Und der Syrer Sobhi Awad in der Rolle des Tarik war zu Drehbeginn tatsächlich erst seit neun Monaten in Deutschland. Zwischen die reine Freundschaftsgeschichte schieben sich daher zuweilen irritierende Momente, die die Frage nahelegen, ob dies ein Film für die besonders politisch Korrekten sein soll. Den Geflüchteten zu helfen ist ja eine wichtige Angelegenheit. Aber muss dafür im Kino eigens Werbung gemacht werden – etwa wenn die ganze Klasse in aufdringlicher Gutmenschenmanier eine Social-Media-Kampagne startet, um Tariqs in den Fluchtwirren verloren gegangenen Bruder zu finden?

Unterm Strich ist „Zu weit weg“ ein gelungenes Beispiel, wie Kinderfilme (in diesem Fall empfohlen ab acht) in die Lebenswelt der Kinder eintauchen, statt in Abenteuerfantasien zu entfliehen. Auch wenn das Debüt von Sarah Winkenstette an mehreren Stellen einen Tick zu didaktisch daherkommt, bietet es einen gelungenen Mix aus Realismus, Fußballbegeisterung, ein wenig Grusel und viel Tempo.

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Copyright: Farbfilm

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Länge: 89 min

Kategorie: Family

Start: 12.03.2020

cinetastic.de Filmwertung: (7/10)

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Zu weit weg

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 89 min
Kategorie: Family
Start: 12.03.2020

Bewertung Film: (7/10)

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