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Limbo

Geschrieben von Peter Gutting am 9. Februar 2020

Seit den Kindertagen des Kinos gehört der Schnitt zum Film wie das Salz zur Suppe. Nur wenige, meist sehr erfahrene Regisseure wagen es, einen Streifen in einer einzigen langen Einstellung zu drehen. Selbst dann gibt es manchmal verdeckte Schnitte, wie beim jüngsten prominenten Beispiel „1917“ von Sam Mendes. In Deutschland hat vor allem Sebastian Schippers „Victoria“ (2015) für Aufsehen gesorgt. Jetzt hat sich Tim Dünschede in seinem Hochschul-Abschlussfilm „Limbo“ an die enorme logistische Herausforderung gewagt.

Freitagabend, kurz vor Büroschluss. Die junge Managerin Ana (Elisa Schlott) ist entsetzt. Vor wenigen Minuten hat sie einen Betrugsfall in dreistelliger Millionenhöhe entdeckt. Sie muss unbedingt noch den Chef erwischen, dessen Fahrer bereits mit laufendem Motor vor dem Firmengebäude wartet. Ana hetzt die Treppe hinunter, die Kamera ist ihr dicht auf den Fersen. Frank Mailing (Mathias Herrmann), der Chef, will von Anas Entdeckung nichts wissen. Aber sein lüsterner Geschäftsfreund Henry Dubois (Steffen Wink) lockt die hübsche Frau ins Auto. Die Kamera steigt mit ein. Sie folgt dem Trio, als es an einer Tankstelle Zigaretten kauft.

Dann die erste Überraschung. Die Kamera geht nicht mit zurück zum Auto, sondern folgt der Tankstellenfrau in ein zwielichtiges Hinterzimmer. Es entspinnt sich ein zweiter Handlungsfaden, der Ana in höchste Gefahr bringt. Denn da gibt es noch Carsten (Tilman Strauß), den verdeckten Ermittler mit dunkler Vergangenheit. Er ist einem Geldwäscher auf der Spur, der von allen nur „Wiener“ (Christian Strasser) genannt wird. Carsten hat sich das Vertrauen des alternden Kleinganoven Ozzy (Martin Semmelrogge) erworben, der als rechte Hand des „Wieners“ agiert, aber die Nase von dem schmutzigen Geschäft voll hat und aussteigen will. Die Geschichten aller Figuren laufen an diesem Freitagabend in einer stillgelegten Fabrikhalle zusammen, die für illegale Boxkämpfe ohne Handschuhe genutzt wird.

Ganz offensichtlich haben sich Regisseur Tim Dünschede und sein Kameramann Holger Jungnickel von Sebastian Schippers „Victoria“ begeistern lassen. Und ebenso offensichtlich wollten sie die Herausforderung, die mit dem Verzicht auf die Kunst der Montage verbunden ist, noch toppen. Daher die Entscheidung für einen Thriller mit mehreren Handlungssträngen. Die Kamera kann nicht, wie bei „Victoria“, die ganze Zeit bei der Hauptfigur bleiben. Sie muss sie verlassen und sich an die Spur einer Parallelhandlung heften. Aber irgendwann muss sie auch wieder zum ersten Handlungsstrang zurückkehren. Das geht nur, wenn die Story und das Setting so gebaut sind, dass die Kleingruppe von Carsten und Ozzy irgendwann auf die Geschäftsleute Ana, Mailing und Dubios trifft. Eine hohe Anforderung an das Drehbuch und die „Location“.

Tatsächlich kam Drehbuchautor Anil Kizilbuga erst ins Spiel, nachdem sich Dünschede und Jungnickel bereits auf einen sogenannten „One-Shot“ als Abschlussfilm an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen verständigt hatten. Die Story wurde demnach so geschrieben, dass sie die formalen Anforderungen erfüllte und zudem nicht zu viele Komparsen und keine teure Ausstattung erforderte, die das vergleichsweise schmale Budget eines Abschlussfilms gesprengt hätten.

Das Ergebnis ist zwiespältig. Einerseits spiegelt „Limbo“ die ungeheure Intensität der Dreharbeiten wider, als sich keiner auch nur den geringsten Fehler erlauben durfte. Alle Schauspieler sind hochkonzentriert wie im Theater. Die Ängste, Hoffnungen und Ausraster der Figuren lassen die Leinwand geradezu vibrieren. Der Zuschauer ist sozusagen „live“ dabei, erlebt jede Sekunde des Spiels auf Leben und Tod in Echtzeit mit. Das hat seine eigene Qualität, die sich in dieser Authentizität nur durch den Verzicht auf Schnitte erzielen lässt.

Andererseits leidet der Film auch unter den Vorgaben, die er sich selbst auferlegt. So lassen sich die beiden Autofahrten nicht abkürzen und auch die Wege innerhalb der alten Fabrikhalle sind lang. Immer wieder muss die Kamera einen der Akteure durch lange Flure verfolgen, muss Treppen hinauf- und hinabsteigen – Sekunden und Minuten, in denen nichts anderes passiert, als dass die Entfernung vom Boxkampf zum Büro des „Wieners“ zurückgelegt wird. Zwar hilft der ausgefeilte Soundtrack von David Reichelt über die schlimmsten Längen hinweg. Doch die dumpfen Schläge, das elektronisch verzerrte Geraune und Gedröhne können den szenischen Spannungsverlust nicht komplett ausgleichen.

„Limbo“ ist ein bemerkenswertes Debüt mit bewundernswertem Mut zum Risiko. Dank überzeugender Schauspieler und einer anschmiegsamen Kamera baut der Thriller Echtzeit-Spannung auf. Aber der Verzicht auf Schnitte hat auch seinen Preis. Die Story mutet selbst für Thrillerverhältnisse arg konstruiert an. Und gewisse Längen lassen sich nun mal nicht vermeiden, wenn man unvermeidliche Fahrten und Gänge in voller Dauer zeigen muss.

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Wir vergeben daher 6,5 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Nordpolaris

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Länge: 89 min

Kategorie: Drama, Thriller

Start: 20.02.2020

cinetastic.de Filmwertung: (6,5/10)

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Info

Limbo

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 89 min
Kategorie: Drama, Thriller
Start: 20.02.2020

Bewertung Film: (6,5/10)

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