Der Regisseur Karim Aïnouz strebte ursprünglich eine Architektenlaufbahn an. Das merkt man in seinen Filmen. Sie erkunden den filmischen Raum auf eine betörende, eigensinnige Weise. Landschaft, Gebäude oder Städte sind stets ein Mitspieler in seinen Werken. Manchmal werden sie sogar zum Thema, wie in Aïnouz‘ Dokumentation „Zentralflughafen THF“ (2018) über den Berliner Tempelhof Airport oder in seinem Beitrag zum Doku-Projekt „Kathedralen der Kultur“ (2014) über das Centre Pompidou. Sein neuer Film schwelgt ebenso sehr im Visuellen wie das bisherige Werk des in Berlin lebenden Algero-Brasilianers, lässt sich aber erstmals auf die klassische Erzählform des Melodrams ein. Bei den Filmfestspielen in Cannes gewann der Film sehr zu Recht den Hauptpreis der Nebenreihe „Un certain Regard“.
Rio de Janeiro im Jahr 1950: Zwei Schwestern machen einen Ausflug in den Tropenwald außerhalb der Stadt. Die jungen Frauen sitzen auf einem Stein und schauen hinaus aufs Meer, auf die malerische Bucht der Metropole, die hier ganz fern erscheint. Die beiden reden nicht viel, überlassen sich schweigend dem schweifenden Blick. Ihre Zweisamkeit, die sie verbindende Sehnsucht haben etwas Vertrautes – eine Seelenschwingung seit Kindertagen. Auf dem Rückweg läuft Guida (Julia Stockler), mit 20 zwei Jahre älter als Euridice (Carol Duarte) ein Stück voraus. Die Jüngere kann sie noch hören, gerät aber dennoch in eine leichte Panik. Die Töne des Dschungels, das Ausgesetztsein in der Wildnis, machen ihr Angst. Spätestens da begreift man, welch enges Band die Schwestern zusammenschweißt, sie absondert von den Eltern und dem Leben um sie herum, das in Konventionen erstarrt ist.
Auf ihrem Streifzug durch das tropische Grün erhascht die Kamera von Hélène Louvart manchmal einen Blick auf den Berg mit der berühmten Christusstatue hoch über den Dächern von Rio. Der Film spricht es nicht aus, seine sinnenfrohen Bilder legen es nicht einmal nahe, und doch die Interpretation drängt sich einfach auf: Hier wacht die katholische Kirche über das üppige, wuchernde Leben, über seine Gefahren und Freuden, über Sinnlichkeit, Lust und das, was man damals noch Sünde nannte. Nach heutigen Begriffen sind Guida und Euridice moralisch ganz okay. Aber es treibt sie etwas an, was auf der ganzen Welt in den 1950er Jahren als unerhört galt, speziell für Frauen: der Wille zur Selbstbestimmung. Guida möchte einen Mann heiraten, den sie liebt. Die begnadete Pianistin Euridice zieht es an die Musikhochschule ins ferne Wien.
In der Blase ihrer Zweisamkeit sind die Wünsche und Sehnsüchte der Schwestern geschützt, treiben Blüten und wachsen, werden zum Bollwerk gegen die Macht der überlieferten Unterdrückung. Aber der auf seine Ehre bedachte Vater (Antonio Fonseca) setzt sich durch: Er verstößt die schwangere, mit einem Griechen durchgebrannte Guida und trennt sie durch eine dreiste Lüge von Euridice, die ihre Karriereträume gegen eine verordnete Ehe durchsetzen muss. Auf sich gestellt und ohne voneinander zu wissen, leben die Schwestern ihr sehnsüchtiges Leben in Rio nebeneinander her. Aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen stirbt bekanntlich zuletzt.
Basierend auf dem Roman „Die vielen Talente der Schwestern Gusmão“ von Martha Batalha variiert Drehbuchautor Murilo Hauser Handlung und Motive, um dem zentralen Anliegen von Koautor Aïnouz so nah wie möglich zu kommen: einer unterdrückten Frauengeneration, die dennoch ihren Weg ging, ein Denkmal zu setzen. Der 1966 geborene Regisseur erinnert sich an seine Großmutter, seine Mutter und Tanten nicht als Opfer, sondern als Heldinnen in einem patriarchalischen Umfeld. Deren Leben und das vieler anderer auf der Folie der Romanfiguren sichtbar zu machen, sei für ihn die Hauptattraktion des Stoffes gewesen, schreibt Aïnouz in einem Regiestatement.
Man wird sich dem visuellen Sog der sinnlich aufgeladenen Bilder, der satten, leuchtenden Farben, der üppigen Kostüme kaum entziehen können. Und doch muss man genau hinschauen, um die Umschwünge in Handlung und Gefühlsleben nicht zu verpassen. Denn der Regisseur bedient sich der Regeln des klassischen Hollywoodmelodrams á la Douglas Sirk vor allem, um sie zu brechen oder zu unterlaufen. Hemmungslose Gefühlsseligkeit wird man in „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ nicht finden. Sondern Auslassungen, überraschende Schnitte oder abrupte Zeitsprünge, die den Zuschauer immer wieder aus der Sentimentalität reißen, ihn zum Innehalten zwingen, zu einem kurzen Beisichsein. Dadurch wird das Genre nicht nur in die heutige Zeit gerettet. Sondern Empathie und Emotionen kommen sogar noch stärker zu ihrem Recht – eine Erfahrung, die immer wieder verblüfft. Schon Regisseure wie Werner Schroeter und Rainer Werner Fassbinder, aber auch Jüngere wie Todd Haynes oder François Ozon haben durch Verfremdungseffekte dem Genre eine Frischzellenkur verpasst. Mit seinem jüngsten Film schließt sich Karim Aïnouz den Erneuerern an, ohne seine unverwechselbare, ganz im Visuellen aufgehende Handschrift zu verraten.
„Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ entfaltet trotz seines langsamen Erzähltempos einen sinnlichen Sog: durch seine brillanten Bilder, die das Genre des Melodrams mit seinen leuchtenden Farben und großen Gefühlen wieder aufleben lassen. Vor Sentimentalität bewahrt Regisseur Karim Aïnouz ein Erzählstil, der vor allem durch seine Auslassungen besticht. Gerade durch das, was nicht passiert, kreiert der Algero-Brasilianer Szenen, die lange nachhallen.