Das populäre Kino scheint die Frauenpower entdeckt zu haben: Immer mehr Darstellerinnen steigen in Kampfanzüge, die „Ghostbusters“ werden weiblich und die Helden der „Ocean‘s“-Serie mutieren zu acht Diamantenräuberinnen auf Stöckelschuhen. Doch ganz so neu ist die Umkehrung des Geschlechterklischees nicht. Schon in den 1980er Jahren erzählte eine britische TV-Serie von Gangsterwitwen, die das Erbe ihrer Männer antreten. Der britische Künstler und Regisseur Steve McQueen nimmt diesen Stoff als Basis für seinen neuen Film. Aber nicht, ohne dem Genre seinen eigenen Stempel aufzudrücken.
Ein Paar mittleren Alters turtelt zärtlich im Bett. Sie ist schwarz, er weiß, aber das scheint die große Liebe nie beeinträchtigt zu haben. Knallharter Schnitt, das Setting wechselt komplett: Dem Ehemann fliegen Kugeln um die Ohren, der letzte Raubüberfall mit seinen drei Kumpanen ist gründlich schief gegangen. Wieder Schnitt, zurück zu der zärtlichen Szene am Morgen. Eine ungewöhnliche Parallelmontage: Sie fällt gleich in den ersten Filmminuten mit der Tür ins Haus, bricht genauso gewaltsam über den Zuschauer herein wie über die schwarze Frau, die von einer Sekunde auf die andere Witwe wird. Das Stilmittel hat eine weitere Funktion: Es zieht den Rahmen weit auf – weit über die klassischen Elemente des sogenannten „Heist“-Genres hinaus (Heist = bewaffneter Raubüberfall). Ein Ehedrama passt ebenso hinein wie weibliche Emanzipationsgeschichten, die Korruption der Millionenstadt Chicago gleichermaßen wie der intime Prozess der Trauer.
Bald schneidet die Montage nicht nur zu Veronica (Viola Davis) und ihrem Mann Harry (Liam Neeson), sondern auch zu den zärtlichen Momenten in den Ehen von Linda (Michelle Rodriguez) und Alice (Elizabeth Debicki). Außer ihrem plötzlichen Witwendasein haben die Frauen nichts gemein. Veronica muss ihre Namen und Adressen mühevoll recherchieren, so wenig weiß sie von den dunklen Geschäften ihres verstorbenen Mannes. Auch nicht, dass der Tote zwei Millionen Dollar Schulden bei Jamal (Brian Tyree Henry) hinterlässt, einem Gangster und zugleich Bürgermeisterkandidaten. Der droht Veronica kalt zu machen, sollte sie das Geld nicht innerhalb von vier Wochen auftreiben. Der verstorbene Harry vererbte wenig außer seinem Notizbuch, in dem schon der nächste Coup minutiös vorgeplant ist. Weil auch die beiden anderen Witwen in Lebensgefahr schweben, machen sie sich mit der als Fahrerin angeheuerten Friseuse Belle (Cynthia Erivo) an ein kriminelles Handwerk, von dem sie nicht das Geringste verstehen.
Hätten es Regisseur Steve McQueen („12 Years a Slave“) und seine Drehbuch-Koautorin Gillian Flynn („Gone Girl“) lediglich mit diesem Damen-Quartett zu tun, könnte man sie um ihre überschaubare Aufgabe vielleicht beneiden, verglichen etwa mit Ocean’s Eleven und seinem deutlich größeren Räuberteam. Aber der klassische Überfall mit seinen Genre-Gesetzen (Auskundschaften des Objekts, Spannungen im Team, Hindernisse bei der Durchführung) ist nur die unterhaltsame Form, in die der Regisseur seine eigentlichen Themen packt. Wie in „12 Years a Slave“ geht es um Menschen in scheinbar aussichtslosen Extremsituationen, um Rassismus, Gewalt, Einschüchterung. Und um die Frage nach den verschütteten Ressourcen, aus denen die Kraft erwächst, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Das bedeutet, dass in diesem Ensemblefilm nur wenige Striche genügen müssen, um ein komplexes Bild zu zeichnen. Wie in der Parallelmontage zu Beginn braucht der Film oft nur eine kluge Kameraeinstellung oder einen beredsamen Schnitt, um ein ganzes Panorama zu öffnen, sei das von ehelichen Spannungen, vom Umgang mit Verlust oder das einer tief zerrissenen Stadt. Steve McQueen ist Künstler und Filmvirtuose genug, um sich nicht auf gängige Thrillerelemente oder den treibenden Soundtrack des renommierten Filmkomponisten Hans Zimmer zu beschränken. Immer wieder überrascht er mit augenöffnenden Schnitten und vielsagenden Kamerafahrten. Etwa wenn zunächst eine endlos scheinende Weite von Schrottautos in den Blick gerät, die Kamera an zerbeulten Motorhauben entlangfährt, sich in die Luft erhebt und schließlich bei der überforderten und zugleich lebensklugen Alice landet, die hier einen schnellen, aber nicht zu teuren Fluchtwagen ersteigern soll.
„Widows – Tödliche Witwen“ ist eine gelungene Mischung aus Genre- und Autorenfilm. Einfühlsam und mitreißend erzählt der Brite Steve McQueen von vier Frauen, die von ihren Männern jahrelang hinters Licht geführt wurden, beinahe chancenlos vor den Ruinen ihres Lebens stehen, aber nun das Kommando übernehmen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Nicht als quasi-männliche Kampfmaschinen, sondern auf ihre eigene, ihrer jeweiligen Biografie angemessene Art.