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Die Schneiderin der Träume

Geschrieben von Peter Gutting am 9. Oktober 2018

Die Schneiderin der Träume

Vor fünf Jahren spielte die indische Schauspielerin Tillotama Shome ein Mädchen, das als Junge aufgezogen wird. Das war ein starkes Sinnbild für die Unterdrückung in einer patriarchalischen Gesellschaft: Ein Vater erträgt es nicht, keinen Sohn bekommen zu haben – und das Mädchen soll sein Geschlecht verstecken, koste es, was es wolle. Im neuen Film von Rohena Gera darf die vielfach ausgezeichnete Darstellerin zu ihrem Geschlecht stehen, aber unterdrückt ist sie immer noch, als Frau und als Dienstmädchen. Erneut ist also die Kämpferin gefragt: eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben ist.

Die Schneiderin der TräumeEin Mann tritt auf die Straße, und der Fahrer seiner Luxuslimousine hält bereits die Wagentür auf. Doch der Mann will überhaupt nicht wegfahren. Er möchte nur kurz zu Fuß zum Kiosk, Zigaretten kaufen. Vorauseilender Gehorsam scheint ein Markenzeichen indischer Bediensteter zu sein. Die Haushaltshilfe brät schon das Lamm in der Pfanne, bevor sie erfährt, dass der junge Herr gar keinen Hunger hat. Kaum vorstellbar, wie viel wertvolle Lebensmittel im Müll der indischen Oberklasse landen. Sehr wohl aber lässt sich ausmalen, wie sich das Verhältnis von Herren und Knechten in begüterten Haushalten anfühlt. Man braucht nur an die 1950er und 1960er Jahre zu denken, als es auch hierzulande noch schick war, Personal zu haben, vom Butler über den Chauffeur bis zur Köchin und dem Kindermädchen. Inzwischen freilich begnügt man sich mit schwarz arbeitenden, nicht weniger ausgebeuteten Haushaltshilfen auf Zeit.

Tillotama Shome ist also Ratna, das Dienstmädchen von Ashwin (Vivek Gomber), reicher Sohn eines erfolgreichen Baulöwen, der einmal die prosperierende Firma übernehmen soll. Eigentlich sollte Ratna einem jungen Ehepaar dienen. Aber Ashwins Hochzeit ist im letzten Moment geplatzt. Seine Verlobte hat ihn während eines Auslandaufenthalts betrogen. Das ist traurig für Ashwin, aber auch ein Zeichen dafür, um wieviel lockerer die Sitten innerhalb der Oberklasse sind – im Vergleich zu den strengen Vorschriften zwischen den Klassen.

Die Schneiderin der TräumeRatnas Job ist in Gefahr, kaum dass sie ihn angetreten hat. Denn dass eine jung verwitwete Frau mit einem alleinstehenden Mann in einer Wohnung lebt, ist eigentlich nicht tolerierbar. Doch das ist nicht Ratnas eigentliches Problem, sie will sowieso Schneiderin werden. Ihr Problem sind die Gefühle, die Ashwin für sie entwickelt. Und sie zu ihm. Eine derartige Beziehung würde in Indien niemals gebilligt, auch in der Millionenmetropole Mumbai nicht. Ratna droht gesellschaftliche Ächtung, sollte auch nur irgendein Gerücht die Runde machen. Entsprechend reserviert verhält sie sich, redet ihren Dienstherrn immer nur mit „Sir“ an (so auch der Originaltitel) und meidet seine Nähe.

Ein beliebtes Stilmittel von Rohena Gera und ihrem Kameramann Dominique Colin ist die Kamerafahrt durch getrennte Räume – so, als würde das Aufnahmegerät schadlos die Wand durchdringen, vom Wohnzimmer zur Küche, vom Herrenzimmer zur Dienstmädchenstube. Der Symbolgehalt dieses Tricks ist mit Händen zu greifen, aber Rohena Gera inszeniert ihn beiläufig, als alltägliche Szene, ohne das Bild mit Bedeutung aufzuladen. Das ist das Schöne an ihrem realistischen Stil, der mehr auf Details und auf Auslassungen setzt als auf sozialkritisch Auserzähltes. Seinen Reim macht sich der Zuschauer schon selbst, zumal der Mitteleuropäer, für den die genaue Beobachtung menschenverachtender Mechanismen natürlich nicht dieselbe Sprengkraft hat wie für die Landsleute der Regisseurin, die inzwischen in New York lebt.

Die Schneiderin der TräumeWeniger im Sozialdrama liegt für den westlichen Zuschauer die Faszination, solche Verhältnisse hat man vermutlich schon in tausend Filmen gesehen. Einzigartig ist aber die Zartheit der Liebesgeschichte, die „Die Schneiderin der Träume“ hauptsächlich über Andeutungen erzählt. Wann hat man zum letzten Mal eine Lovestory gesehen, in der genau zwei Küsse vorkommen? Der erste geschieht auf einem Bildschirm. Ratna ist peinlich berührt, als sie ins Zimmer kommt und genau diese Kussszene in dem Film sieht, den sich Ashwin im Fernsehen anschaut. Der zweite ist dann real und für Ratna sogar noch peinlicher, denn er bedroht ihren guten Ruf und sogar ihre Existenz. Freizügigeres gibt es nicht zu sehen in diesem außerordentlich fein gearbeiteten Film. Der Rest liegt in den Augen, den Gesten, den Bewegungen. Oder gleich ganz zwischen den Bildern.

In ihrem Spielfilmdebüt erzählt die Dokuregisseurin und Drehbuchautorin Rohena Gera eine fein ziselierte Liebesgeschichte vor realistisch ausgebreiteten Klassenverhältnissen. „Die Schneiderin der Träume“ scheut davor zurück, in Romantik zu schwelgen. Und geht den Romantikern umso eindringlicher unter die Haut.

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Copyright: Neue Visionen

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Die Schneiderin der Träume

Länge: 99 min

Kategorie: Drama

Start: 20.12.2018

cinetastic.de Filmwertung: (7/10)

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Info

Die Schneiderin der Träume

Die Schneiderin der Träume

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 99 min
Kategorie: Drama
Start: 20.12.2018

Bewertung Film: (7/10)

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