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Das schweigende Klassenzimmer

Geschrieben von Peter Gutting am 25. Februar 2018

Das schweigende Klassenzimmer

Zivilcourage ist ein wichtiges Motiv in Erich Kästners berühmtem Kinderbuch „Das fliegende Klassenzimmer“. Noch mehr gilt das für ein Sachbuch, das sich mit einem schönen Wortspiel zu dem fiktiven Klassiker in Beziehung setzt. „Das schweigende Klassenzimmer“ berichtet von einer realen Abiturklasse in der ehemaligen DDR; die zum Gedenken an die Opfer des Ungarn-Aufstands 1956 eine Schweigeminute abhielt. Dietrich Garstka, einer der Schüler, hat es geschrieben. Lars Kraume spannt in seiner klugen Verfilmung den Rahmen weit: von den berührenden Einzelschicksalen der Abiturienten zu einem gesamtdeutschen Panorama, das uns noch heute angeht.

Das schweigende KlassenzimmerDas historische Kinoplakat gibt sich überraschend freizügig angesichts der gesamtdeutschen Prüderie in den 1950er Jahren. Von „Liane“ handelt es, dem Mädchen aus dem Urwald, das dem Betrachter nur mit einem Lendenschurz bekleidet entgegenlächelt, die Brüste von den langen Haaren knapp bedeckt. An der Westberliner Kinokasse drängeln sich auch Kurt (Tom Gramenz) und Theo (Leonard Schleicher), zwei Jungs aus dem ostdeutschen Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt). Die Mauer war ja 1956 noch nicht gebaut, die Grenze grundsätzlich mit ein paar Tricks und Ausreden passierbar.

Neben dem damaligen Skandalfilm sehen die angehenden Abiturienten auch die West-Wochenschau. Sie berichtet vom Aufstand der Ungarn, die – ähnlich wie die Arbeiter der DDR drei Jahre zuvor – einen Sozialismus mit demokratischen Freiheiten forderten. Solche Ideen treiben auch Kurt, Theo und ihre Mitschüler um, zumal bei der blutigen Niederschlagung des Aufstandes auch das Fußballidol Ferenc Puskás ums Leben gekommen sein soll. Eine Falschmeldung, wie sich später herausstellt. Aber da hatte die harmlose Pennäleraktion einer Schweigeminute während des Unterrichts schon höchste politische Wellen geschlagen. Volksbildungsminister Fritz Lange persönlich tritt auf den Plan. Er fordert, die Klasse müsse einen Rädelsführer benennen, auf den eine harte Strafe wartet.

Das schweigende KlassenzimmerBurghart Klaußner spielt diesen Minister, einen Antifaschisten und Widerstandskämpfer, der unter den Nazis im KZ und später im Zuchthaus saß. Es ist nur eine Nebenrolle. Aber die Figur des Schauspielers baut eine Brücke zu Lars Kraumes Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von 2016, in dem Klaußner die Hauptrolle spielt. In beiden Filmen geht es um die 1950er Jahre und darum, wie die in Ost und West gespaltene Nation mit ihrer Vergangenheit umging. Das war kein Ruhmesblatt, weder in dem einen noch in dem anderen jungen Staat, wie wir aus zahllosen Filmen der 1968er-Generation wissen. Gerade deshalb ist es so erfreulich und erfrischend, dass jüngere Filmemacher einen anderen, weniger moralinsauren Zugang zu dem Thema finden. Lars Kraume, Jahrgang 1972, lässt die weltanschauliche Keule im Sack. Ihn interessiert, was wir noch heute von dieser Geschichte mit uns herumschleppen. Warum selbst die Urenkel der Täter und Opfer noch von dem geprägt sind, was damals geschah.

Stilistisch kommt „Das schweigende Klassenzimmer“ ziemlich brav daher. Klassischer Kostümstil, unauffällige Kamera, emotionalisierender Soundtrack. Das Überraschende und Neue steckt in der Perspektive, aus der heraus der Blick zurück geworfen wird. Und vor allem in der Figurenzeichnung. Weder in der Vordergrundhandlung – dem Agieren der Schüler mit- und gegeneinander – noch in dem darin aufscheinenden Gesellschaftspanorama sind die Rollen klar in Gut und Böse verteilt. Selbst der komplett überreagierende Minister („wer gegen den Sozialismus ist, dem hau‘ ich in die Fresse“) bekommt eine kleine, nachdenkliche Szene. Da knöpft er seinen Kragen auf und man sieht tiefe Narben quer über den Hals. Sie stammen von der Folter der Nazis, die den überzeugten Kommunisten in ihren Gefängnissen und KZs brechen wollten. Dass so einer den Feind aufmarschieren sah, als die Adenauer-Regierung den einflussreichen Nazi-Juristen Hans Globke zum Kanzleramtschef machte – wer wollte es ihm verdenken?

Das schweigende KlassenzimmerUnd so zeichnet Lars Kraume ein komplexeres Bild von der frühen DDR, als wir es bisher kennen. Geheimdienstmethoden und echter Aufbruch, Apparatschiks, Mitläufer, Freigeister und Zivilcourage innerhalb der Einheitspartei – sämtliche Farben mischen sich zu einem Bild, das das Klischee vom tristen DDR-Grau mit kräftigen Pinselstrichen aufmischt. Wobei der braune Hintergrund, aus dem das alles emporkroch, viel plastischer hervortritt, als das die Offiziellen in Ost und West jemals wahrhaben wollten.

„Das schweigende Klassenzimmer“ ist keine Geschichtsstunde im klassischen Sinn. Und das ist gut so. Lars Kraume geht es nicht um das Abbild dessen, was einmal war, selbst wenn die etwas altbackene Ästhetik dies vermuten lassen könnte. Ihm geht es um Geschichte als das, was noch heute nachwirkt und die Gegenwart prägt. Das macht seinen neuen Film genauso aktuell wie den vielfach ausgezeichneten „Der Staat gegen Fritz Bauer“.

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Wir vergeben daher 7 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Studiocanal, Julia Terjung

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Das schweigende Klassenzimmer

Länge: 111 min

Kategorie: Drama

Start: 01.03.2018

cinetastic.de Filmwertung: (7/10)

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Info

Das schweigende Klassenzimmer

Das schweigende Klassenzimmer

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 111 min
Kategorie: Drama
Start: 01.03.2018

Bewertung Film: (7/10)

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