Sieben Spielfilme gibt es bereits über die britische Monarchin Queen Victoria (1819 bis 1901). Warum sich also erneut mit den vergleichsweise luxuriösen Problemen einer Königin beschäftigen, die längst Geschichte ist? Regisseur Stephen Frears gibt darauf eine offensichtliche und eine überraschende Antwort. Die offensichtliche: Die platonische Liebe Victorias zu einem Inder wurde erst jetzt entdeckt und ist noch nie verfilmt worden. Die überraschende: Der Stoff ist nicht nur lustig und anrührend, sondern höchst aktuell.
London im Jahr 1887: Die Queen feiert ihr 50. Thronjubiläum. Raumgreifend schwebt die Kamera über die endlos lange, pompös geschmückte Festtafel. Zielsicher fliegt das technische Auge auf den Kopf des Tisches zu, nimmt die Kostüme und den ganzen Pomp im Vorbeigehen mit und stoppt dann direkt vor der Königin (Judi Dench). Die schlingt gierig sechs Gänge in sich hinein, isst das Huhn mit den Händen und macht vor dem Dessert ein kurzes Nickerchen. Das ist lustig und zugleich erhellend. Anschaulicher lässt sich der Kontrast zwischen dem steifen Hofstaat und der gefräßigen, mürrisch-erschöpften, aber im Zweifelsfall äußerst dominanten Regentin kaum schildern.
Man sieht es in jeder Faser von Judi Denchs Gesicht: Ihr gehen die Feierlichkeiten mächtig auf den Senkel. Doch dann geschieht etwas Erfreuliches: Zwei Inder, ein großer und ein kleiner, überreichen ihr ein Geschenk der damaligen Kronkolonie. Abdul (Ali Fazal) ist so energetisiert von seiner ehrenvollen Aufgabe, dass ein klitzekleiner Funke Lebensfreude auf die seit Langem verwitwete Königin überspringt. Über Abdul wird sie am Tag darauf in ihrer unnachahmlich direkten Art sagen: „Der Große sah gut aus.“ Und so kommt es, dass Abdul zum Entsetzen des gesamten Hofstaats zu ihrem Diener, Lehrer und Vertrauten wird.
Wäre die platonische Liebesgeschichte des ungleichen Paares frei erfunden, würde man sie für die billige Ausgeburt eines schnulzenverseuchten Autorenhirns halten. Aber sie basiert auf Fakten. Die Journalistin Shrabani Basu entdeckte vor mehr als zehn Jahren 13 Tagebücher Victorias. Sie waren in der indischen Sprache Urdu verfasst und von den Historikern nicht beachtet worden. Darin schildert Victoria ihre Zeit mit Abdul. Das Gegenstück dazu, ein Tagebuch Abduls, machte die Journalistin ebenfalls ausfindig. 2010 veröffentlichte sie das Buch „Victoria & Abdul – Die Queen und ihr treuester Diener“. Der renommierte Theater- und Drehbuchautor Lee Hall („Billy Elliot“) formte daraus die Filmfassung. Die beruft sich im Vorspann auf die derzeit ziemlich inflationäre Formel „beruhend auf wahren Begebenheiten“. Ziemlich listig setzen die Filmemacher aber hinzu „mehr oder weniger“.
Warum das so ist, versteht man angesichts Frears elegantem Inszenierungsstil sehr gut. Der Regisseur wollte massentaugliches, ebenso humorvolles wie anrührendes Kino machen. Dazu wird dann mal schnell eine Begegnung mit dem Komponisten Giacomo Puccini hinzugedichtet, der der Queen eine Arie vorsingt. Denn das gibt Gelegenheit, die Königin im Anschluss selbst singen zu hören – eine lustige Anspielung auf die beiden Filme über Florence Foster Jenkins, die wohl schlechteste Opernsängerin aller Zeiten.
Der wunderbar spielerische Ton von „Victoria & Abdul“ ist jedoch kein Selbstzweck. Stephen Frears mischt Dur und Moll auf eine Art, die einem vermutlich großen Publikum ganz unaufdringlich ein aktuelles Thema vor Augen stellt. Wie die zu Tode gelangweilte Königin durch das Interesse für eine fremde Kultur ins Leben zurückfindet – das ist großes Kino. Und wie der offene Rassismus intriganter Kleingeister zu einer Palastrevolution führt – das ist ein ebenso großes Drama. Ohne Zeigefinger verwebt Frears Komödiantisches mit höchst aktuellen Entwicklungen. Gäbe es einen verpflichtenden Menschenrechtsunterricht für alle Brexit-Anhänger und sonstige Nationalisten, „Victoria & Abdul“ stünde ganz oben auf dem Lehrplan.
Stephen Frears erweist sich wie schon so oft als Garant für ein intelligentes Unterhaltungskino, das über die engen Grenzen einer reinen Arthouse-Zielgruppe hinausreicht. Vor allem wegen der politischen Implikationen ist „Victoria & Abdul“ zu wünschen, dass der Film mindestens so erfolgreich wird wie „The Queen“. Dass Judi Dench eine schauspielerische Urgewalt ist, muss man längst nicht mehr eigens betonen. Schon allein ihretwegen lohnt sich die Neuinterpretation der Victoria, die Dench schon einmal verkörperte: vor 20 Jahren in „Ihre Majestät Mrs. Brown“.