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Berlin Syndrom

Geschrieben von Peter Gutting am 28. März 2017

Berlin Syndrom

Mit Extremsituationen kennt sie sich aus. Vor fünf Jahren porträtierte Cate Shortland in „Lore“ eine 15-Jährige, die sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren jüngeren Geschwistern auf eine 900 Kilometer lange Reise begibt, ausgesetzt den Wirren der Besatzung und ständiger Lebensgefahr. In ihrem neuen Film macht die Australierin, die erneut in Deutschland drehte, die Räume enger und die Gefahr noch bedrohlicher. Dabei setzt sie erneut auf die Kunst, mit Licht, Schnitt und suggestiver Kamera einen Albtraum zu inszenieren.

Berlin SyndromDas Quietschen der U-Bahn steigert sich zu ohrenbetäubendem Kreischen. Die flirrenden Lichter der Großstadt gehen ins gespenstische Gelb eines Tunnels über. Gleich zu Beginn ist Berlin für die Australierin Clare (Teresa Palmer) ein zwiespältiger Ort. Einerseits Fluchtpunkt für einen Neuanfang im noch jungen Leben der Mittzwanzigerin. Anderseits bedrohlich in seinem Überangebot an Möglichkeiten, in seinem Freiheitsversprechen ohne sicheren Hafen. Die junge Fotografin kommt mit einem konkreten Projekt hierher, sie interessiert sich für die Architektur der ehemaligen DDR. Aber sie kennt niemanden, spricht kaum deutsch und ist ein wenig schüchtern.

Andi (Max Riemelt) lebt schon immer in Berlin. Er hat die DDR noch als Kind erlebt, arbeitet heute als Lehrer für Englisch und Sport. Vermutlich könnte er viele Frauen kennenlernen, aber er hat ein Faible für Touristinnen aus dem englischsprachigen Ausland. Andi spricht Clare an einer Straßenecke an. Aus Versehen – oder absichtlich? – fallen ihm Bücher aus der Hand. Der Pädagoge kann so jungenhaft charmant sein, wie man Max Riemelt aus seinen anderen Filmen kennt, „13 Semester“ etwa. Clare schläft mit ihm, am nächsten Tag will sie nach Dresden. Aber sie überlegt es sich anders, möchte mehr Zeit mit dem intellektuell wirkenden Sonnyboy verbringen. Das wird sie dann auch, denn Andi ist eine gespaltene Persönlichkeit, ein Psychopath, der Frauen einsperrt wie der Entführer von Natascha Kampusch.

Berlin SyndromWas kann man dieser Geschichte von Tätern, die Frauen für sich ganz alleine haben wollen, noch Neues abgewinnen? Cate Shortland versucht es mit einer Beziehungsstudie unter Extrembedingungen. Hier der Kontrollfreak, der seine Perversionen hinter einer freundlichen, gutbürgerlichen Fassade versteckt. Dort die unsicher wirkende junge Frau, die im Angesicht der Todes über sich hinauswächst. Die Regisseurin konzentriert sich ganz auf die Dynamik und die unterschiedlichen Stadien einer Studie über Ohnmacht, Widerstand, Anpassung und mentaler Stärke. Sie zeichnet den Täter nicht als bloßen Sadisten und die Gefangene nicht als bloße Geschundene. Jenseits moralischer Urteile verlegt sich Shortland – wie schon in „Lore“ – auf die leisen Anzeichen erwachender innerer Kraft.

Weniger subtil als die Sensibilität des Schauspiels wirken allerdings die Versuche, den Machtkampf mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen. Das beginnt schon mit dem Titel. Wie die gleichnamige Romanvorlage von Melanie Joosten spielt er auf das „Stockholm Syndrom“ an, ein psychologischer Terminus für das Phänomen, das Entführungsopfer nach einer gewissen Zeit anfangen, positive Gefühle für ihre Peiniger zu empfinden. In diesem Fall ist die Assoziation aber irreführend, da beim „Berlin Syndrom“ die Gefühle schon vor der Gefangenschaft da sind.

Berlin SyndromEbenso konstruiert sind die Anleihen beim DDR-Staat als einem Gefängnis und dem Bedürfnis der Machthaber, ihr Volk komplett unter Kontrolle zu bringen. Im Vergleich dazu wirken Filme, die sich allein auf die Mechanismen von Gefangenschaft und sexueller Ausbeutung konzentrieren, geradliniger. Wie etwa „3096 Tage“ von Sherry Hormann oder „Raum“ von Lenny Abrahamson.

An „Berlin Syndrom“ fasziniert vor allem das herausragende Schauspiel von Teresa Palmer und Max Riemelt. Im Vergleich mit dem Vorgänger „Lore“ fällt der dritte Film von Cate Shortland dagegen ab. Er wirkt wie ein etwas bemühter Versuch, das Thema „weibliche Selbstfindung unter Extrembedingungen“ nun nicht mehr als Drama, sondern im Genregewand des Psychothrillers zu variieren.

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Copyright: MFA

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Berlin Syndrom

Länge: 116 min

Kategorie: Thriller

Start: 25.05.2017

cinetastic.de Filmwertung: (6/10)

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Info

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Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 116 min
Kategorie: Thriller
Start: 25.05.2017

Bewertung Film: (6/10)

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