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Fragen Sie Dr. Ruth

Geschrieben von Peter Gutting am 5. August 2020

Eine tabulose Oma, die auch mit 92 Jahren noch von morgens bis abends über Sex spricht – so vermarktet sich Ruth Westheimer gerne selbst. Ganz falsch ist das nicht. Tatsächlich ist die Sexualtherapeutin, die in den USA zur Fernsehikone wurde, noch immer rastlos unterwegs, zu Vorträgen, Talkshows, Diskussionsrunden. Aber die kleine quirlige Frau verkörpert viel mehr, als es ihre öffentlichen Auftritte vermuten lassen. In seinem berührenden Dokumentarfilm zeichnet der US Regisseur Ryan White ein vielschichtiges Bild von „Dr. Ruth“ und ihrem bewegten Leben.

Bitte hereinspaziert in die New Yorker Wohnung im jüdischen Viertel, in der Ruth Westheimer seit 54 Jahren wohnt. Die zur Zeit der Dreharbeiten 89-jährige führt dem Regisseur ihre neueste Errungenschaft vor, die Sprachassistentin „Alexa“. Natürlich hat eine Dame hohen Alters so ihre Schwierigkeiten mit technologischen Spielereien. Aber die lebenslustige „Dr. Ruth“ verblüfft ihre Gesprächspartner gern. „Alexa, wer ist Dr. Ruth“, fragt sie das runde Gerät. Und erfreut sich an dem Unsinn, den der Computer hervorbringt. Nächster Versuch. Nun zitiert „Alexa“ korrekt aus dem Wikipedia-Eintrag über Ruth Westheimer. „Schau, Ryan“, freut sich die alte Dame und spricht den Filmemacher direkt an, „Alexa kennt mich“. Und natürlich lässt sie ihr unwiderstehliches Lachen hören, ein Markenzeichen ebenso wie ihre Körpergröße von 1,45 Meter.

Die Szene steht nicht nur wegen ihres Witzes am Beginn des Films. Sie umreißt die Person Ruth Westheimer mit präziser Treffsicherheit: ihren Humor, ihre Unkompliziertheit, ihr offenes Wesen. Und ihre unfassbare Lebendigkeit. Mit ihrem Charisma und ihrer menschenfreundlichen Angriffslust bringt sie selbst gestandene TV- und Radiomoderatoren aus dem Takt. Etwa den jungen Mann am Mikrophon, der sie gerade als Sextherapeutin vorgestellt hat. Nein, nein, unterbricht sie ihn schon vor der ersten Frage, bitte sprechen Sie das Wort „Sex“ nicht so neutral und technisch aus. Sondern gefühlvoller und enthusiastischer. Der Mann gerät sichtlich aus dem Konzept, gehorcht aber brav.

Auf zwei Grundsätzen hat Ruth Westheimer immer bestanden. „Normal“ gibt es nicht im Sexualleben. Was immer zwei Menschen einvernehmlich in ihrem Schlafzimmer tun, ist in Ordnung. Und: Die Natur hat alles derart wunderbar eingerichtet, dass nichts davon verwerflich sein kann. Mit solchen Thesen erregte sie in konservativen Kreisen Anfang der 1980er Jahre, als sie erstmals im Radio und später im Fernsehen auftrat, helle Empörung. Ein aufgebrachter Zuhörer etwa wollte sie nach einem Vortrag sofort verhaften lassen. Vielen anderen jedoch löste sie die Zunge und verhalf ihnen zu einem glücklicheren Leben. Als dann die Aids-Krise ausbrach, setzte sie ihre Popularität zugunsten der queeren Community ein, die sie bis heute als Heldin verehrt.

„Ich hatte immer Verständnis für Leute, die man als Untermenschen behandelte“, sagt die Therapeutin und Dozentin. Denn das war ihr selbst geschehen. 1928 in der Nähe von Frankfurt am Main geboren, wuchs sie als Karola Ruth Siegel in einer orthodox-jüdischen Familie auf. Ihre Eltern konnten die Tochter retten, indem sie sie mit zehn Jahren in ein Schweizer Kinderheim schickten. Aber sie selbst wurden von den Nazis umgebracht. Über das Trauma spricht Ruth Westheimer nur ungern. Aber sie überließ den Filmemachern ihre Tagebücher und die Briefe aus dieser Zeit. Ryan White hatte die gefühlvolle Idee, die Erlebnisse mit animierten Bildern zu illustrieren, die durch die Verfremdung umso berührender wirken. Und er konnte seine Heldin dazu bewegen, ihren Jugendfreund Walter aus der Schweizer Zeit zu besuchen, der heute auch in New York lebt. Die Szenen der beiden, die sie an ihre erste romantische Beziehung erinnern, sprechen Bände.

Zu den Höhepunkten des Films gehören zudem die Reisen in die Schweiz und nach Israel, wohin Ruth Westheimer nach Ende des Krieges auswanderte. Und wo sie mit 20 Jahren ein weiteres Trauma erleben musste. Im Palästina-Krieg zerfetzte eine Granate ihre Beine so schwer, dass die Gefahr einer beidseitigen Amputation bestand. „Filme mal, wie schnell ich laufen kann“, sagt sie heute dem Regisseur, noch immer glücklich darüber, wie gut die Verletzung dann doch ausgeheilt ist. In solchen Momenten spürt man, wie wahr der Satz ist, mit dem sie ihre unglaubliche Lebensenergie erklärt: „Ich habe eine Verpflichtung, groß zu leben und Spuren in dieser Welt zu hinterlassen“. Man kann es auch so ausdrücken wie ihr Sohn, der das rastlose Arbeiten für ihren Überlebensmechanismus hält.

„Fragen Sie Dr. Ruth“ ist eine unterhaltsame, flott geschnittene Dokumentation, die ihre künstlerischen Mittel in den Dienst der charismatischen Persönlichkeit von Ruth Westheimer stellt. Die dicht verwobenen Interviews, Reisen und Archivmaterialien erheben zwar nicht den Anspruch, das Geheimnis hinter einer schier unglaublichen Lebensleistung zu lüften. Sie erlauben aber einen einfühlsamen und berührenden Blick hinter die Kulissen des öffentlichen Bildes.

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Länge: 100 min

Kategorie: Documentary, Biography

Start: 27.08.2020

cinetastic.de Filmwertung: (7,5/10)

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Info

Fragen Sie Dr. Ruth

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 100 min
Kategorie: Documentary, Biography
Start: 27.08.2020

Bewertung Film: (7,5/10)

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